Verteidigungsminister Schoigu will die Kontrolle über Prigoschins Wagner-Truppen. In einem Erlass befiehlt er allen Freiwilligenverbänden, Verträge mit dem Verteidigungsministerium zu unterzeichnen. Doch Prigoschin lehnt ab. Eskaliert jetzt der Konflikt zwischen Schoigu und Prigoschin? Ein Experte gibt Antworten und verrät auch, was der Machtkampf für Putin bedeutet.
Der Machtkampf zwischen dem russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Wagner-Chef
Die Antwort von Prigoschin kam prompt: "Die Söldnergruppe Wagner wird keine Verträge mit Schoigu unterzeichnen", sagte der Wagner-Chef in einem Video. Die meisten Militäreinheiten hätten keine vergleichbare Effizienz wie Wagner. Eine Integration unter die Befehlsgewalt des Verteidigungsministeriums würde faktisch das Ende des Freiwilligenkommandos bedeuten.
Machtkampf spitzt sich zu
Prigoschin sagte weiter, Schoigu könne "keine Militärformationen organisieren". Nur eine der zahlreichen Spitzen, die der Chef der Söldnergruppe immer wieder gegen die russische Militärführung schießt. Prigoschin, der unter anderem Ex-Häftlinge für seine Privatarmee rekrutiert und für sein gewaltsames Vorgehen gefürchtet ist, wurde für die breitere Öffentlichkeit im blutigen Kampf um Bachmut bekannt.
Schon damals warf Prigoschin Schoigu vor, den Tod "Zehntausender" russischer Kämpfer zu verantworten, weil nicht ausreichend Munition geliefert werde. Angesichts der Hetztiraden kam in der jüngsten Vergangenheit schon mehrfach die Frage auf: Warum kann Prigoschin so scharfe Worte öffentlich äußern? Normalerweise müsste man um sein Leben fürchten, würde man die Elite so vehement angreifen.
Prigoschin widersetzt sich Befehl
Auch nach seiner jetzigen Weigerung, den Befehl zu befolgen, zeigte sich der Wagner-Chef betont gelassen. Es könne sein, dass seine Kämpfer in der Folge keine Munition oder Waffen erhielten, wenn er sich dem Erlass widersetze. Werde es in der Ukraine eng, werde er ohnehin wieder um Hilfe gebeten und mit Waffen und Munition beliefert.
"Als wir anfingen, uns an diesem Krieg zu beteiligen, hat niemand gesagt, dass wir verpflichtet wären, Vereinbarungen mit dem Verteidigungsministerium zu treffen", erinnerte Prigoschin bei "Telegram".
Entscheidender Wendepunkt?
Expertinnen wollen die aktuellen Entwicklungen nicht zu hoch hängen. Das britische Verteidigungsministerium sprach in einem Bericht allerdings davon, Prigoschins Rhetorik entwickle sich zunehmend "zum Widerstand gegen breitere Teile des russischen Establishments".
Bislang habe er zwar Kritik geübt, sich aber Putins Autorität gebeugt. Weiter heißt es: "Der 1. Juli 2023, der Stichtag für die Unterzeichnung von Verträgen durch die Freiwilligen, dürfte ein entscheidender Wendepunkt in der Fehde sein." Der entscheidende Moment dürfte also noch bevorstehen.
Politikwissenschaftler Tobias Fella ist sich allerdings bereits jetzt sicher: "Es gibt genügend Dinge, die Putins Ziele potentiell mehr gefährden können als ein Machtkampf zwischen Schoigu und Prigoschin." Dazu zählten zum Beispiel fortwährende Lieferungen von westlichem Militärgerät an die Ukraine und eine Bindung derselben an die Nato, ein andauernder westlicher Zusammenhalt sowie zu langsames strategisches, taktisches und institutionelles Lernen in den russischen Streitkräften und im Sicherheitsapparat.
Prigoschin: Teil des Systems
Auch eine erfolgreiche ukrainische Offensive, eine tiefere wirtschaftliche Krise in Russland, ein Verlust von Einfluss und Diskursmacht in Machtzentren des globalen Südens oder Druck aus China stellten vermutlich größere Risiken dar. "Interne Machtkämpfe in Russland werden Putin erst dann gefährlich, wenn er als schwach und nicht mehr als Herr der Lage erscheint oder sich eine Koalition gegen ihn herausbildet", fasst Fella im Gespräch mit unserer Redaktion zusammen.
Über Prigoschin müsse man wissen, dass er in populistischer Manier agiere und beanspruche, das Volk gegenüber einer Elite zu vertreten. "Er inszeniert sich als Repräsentant des Volkes. Seine populistische Selbstinszenierung ist zentral für sein Branding", sagt der Experte. Letztendlich sei Prigoschin aber Teil jenes Establishments, das er angeblich so verabscheut und für unfähig hält. "Er lebt von Regierungsaufträgen", erinnert Fella.
Putin kann Kritik auch nützen
Der Kreml habe in den vergangenen Jahren staatliches Handeln outgesourced – an Akteure wie Wagner. "Prigoschin ist gewissermaßen Produkt und Profiteur der Regierung und Amtszeit Putin", analysiert Fella. Gegenwärtig teste der Wagner-Chef offenbar die Grenzen dessen aus, was sagbar ist und was das russische Establishment an Kritik verträgt. "Man darf nicht vergessen, dass Putin und sein enger Kreis die Kritik Prigoschins ermöglichen und zulassen", betont Fella.
Die Kritik könne Putin auch nützlich sein, wenn er damit Verantwortung von sich weghalten könne. "Wenn es interne Machtkämpfe gibt, ist das Verteidigungsministerium mitunter Schuld an Problemen und nicht er. Er spielt Gegner gegeneinander aus und bleibt dadurch mehr oder weniger unantastbar", erklärt der Experte.
Militärische Gründe denkbar
Die versuchte Integration der Wagner-Gruppe unter das Kommando des Verteidigungsministeriums könnte aus seiner Sicht ein Versuch sein, Prigoschin doch ein wenig zurechtzustutzen. Zu diesem Schluss kommt auch das "Institut for the study of war" (ISW).
Die "laufenden Formalisierungsbemühungen" könnten darauf abzielen, die "Kontrolle über russisches irreguläres Personal und Nachschub zu zentralisieren, um auf ukrainische Gegenoffensivoperationen zu reagieren, und gleichzeitig den Einfluss von Personen außerhalb des Verteidigungsministeriums, vor allem des Finanziers der Wagner-Gruppe, Jewgeni Prigoschin, einzuschränken", heißt es in einem Bericht. Auch Fella meint: Abseits des Machtkampfes gebe es militärische Gründe für den Erlass – nämlich die Stärkung der russischen Verteidigungs- und Manövrierfähigkeit im Angesicht der ukrainischen Gegenoffensive.
Läuft Kadyrow sich warm?
Dabei könnte die Eingliederung für die Wagner-Leute auch Vorteile haben: Nach offiziellem russischem Verständnis ist die Privatarmee kein Bestandteil des Militärs – Hinterbliebene haben deshalb beispielsweise keinen Anspruch auf Leistungen. Ein Vertrag könnte diesen Status ändern.
Sollte Prigoschin sich weiterhin widersetzen, könnte jemand anders die Konfliktdynamiken nutzen, sagt Fella. "Tschetscheniens Machthaber Kadyrow hat bereits betont, dass seine Spezialkräfte eng mit den russischen Streitkräften bei der Verteidigung von Belgorod kooperieren werden. Es könnte gut sein, dass Kadyrow versucht, sich in den Machtkämpfen als zuverlässig hervorzutun – im Gegensatz zu Prigoschin."
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