• Der ungarische Regierungschef Viktor Orbán ist in der vergangenen Woche einem Rauswurf seiner Fidesz-Partei aus der konservativen EVP-Fraktion im EU-Parlament zuvorgekommen und hat sie auf eigene Faust verlassen.
  • Als Parteimitglied in der Europäischen Volkspartei (EVP) wurde Fidesz bereits im Vorfeld suspendiert.
  • Experte Kai-Olaf Lang spricht im Interview über Gefahren, die jetzt drohen.

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Er hat gedroht, er hat ernst gemacht: Der ungarische Regierungschef Viktor Orbán hat am vergangenen Mittwoch mit seiner Fidesz-Partei die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europaparlament verlassen. Der Fraktion der konservativen Parteienfamilie, der größten im EU-Parlament, gehören auch CDU und CSU an.

Durch eine Änderung der Geschäftsordnung wollte sie den Weg für den Rauswurf der rechtspopulistischen Fidesz-Partei frei machen. Orbán kam dem zuvor – und muss nun versuchen, mit der neuen Situation umzugehen. "Der Ausstieg war nicht das erwünschte Szenario. Aber Fidesz ist nun freier, Orbán kann seinen eigenen Weg nun komplett unabhängig von der EVP beschreiten", vermutet Ungarn-Experte Kai-Olaf Lang.

Aufbau einer europäischen Rechten

Orbán habe auch bereits angekündigt, mit Fidesz – der als nationalkonservativ und rechtspopulistisch gilt- eine demokratische und europäische Rechte mit aufbauen zu wollen. "Insgesamt kann Orbán in Zukunft seinem christlich-konservativen weltanschaulichen Profil entsprechend klarer auftreten", so der Politikwissenschaftler.

Völlig schmerzfrei war der Rückzug aus der EVP für Orbán allerdings nicht. "Das Gütesiegel, welches die Zugehörigkeit in der EVP und ihrer Fraktion darstellt, wird definitiv fehlen. Auch könnte eine Art Schutzschirm, den man durch die Solidarität von Parteien aus dem eigenen Verbund hat, dadurch wegfallen", schätzt Lang.

Wegfall von Gesprächskanälen

Dass das Tischtuch zwischen EVP und Fidesz nun zerschnitten ist, ist Folge einer jahrelangen Entwicklung. Vor allem Fragen zum Thema Rechtsstaatlichkeit führten zu wachsenden Differenzen. Als durch das Europäische Parlament im Herbst 2018 gegen Ungarn ein Verfahren nach Artikel 7 initiiert wurde, hätten auch schon zahlreiche Abgeordnete aus der EVP gegen Fidesz gestimmt, erinnert der Experte. Wenn man über die Folgen für Fidesz nachdenkt, so sei nicht zu vergessen, "dass Fidesz zunächst manche Ressourcen im Europäischen Parlament verlieren wird – zumindest solange man keiner anderen Gruppe angehört, kann man etwa nicht mehr auf die Infrastruktur der Fraktion zurückgreifen", ergänzt Lang.

Weitere mögliche Nachteile hielten sich jedoch Grenzen: Zwar könnten Gesprächskanäle wegfallen, allerdings würden Fidesz-Vertreter natürlich die übrigen Mitglieder der EVP-Fraktion kennen. "Man wird bestehende persönliche Kontakte weiterhin nutzen", meint Lang daher.

Suche nach neuen Partnern

Auf der Suche nach neuen Bündnissen ist Orbán dennoch. Im ungarischen Staatsfunk sagte er, es müsse eine politische Heimat "für Menschen wie uns geben, die die Familie schützen, ihre Heimat verteidigen", eine Zusammenarbeit zwischen Nationalstaaten wollten, aber kein "europäisches Imperium". Als Gesprächspartner nannte er die nationalkonservative polnische PiS sowie die Chefs der rechtsradikalen italienischen Parteien Lega und Fratelli d’Italia, Matteo Salvini und Giorgia Meloni.

Lang sagt: "Man muss jetzt noch abwarten, mit wem beziehungsweise welcher Fraktion Fidesz letztendlich zusammenspannen wird. Fidesz würde eine andere Fraktion natürlich nummerisch aufwerten, wenn sie mit ihr zusammenarbeitet." Eine Möglichkeit seien die gemäßigt europaskeptischen Kräfte, die sich bei den Europäischen Konservativen und Reformern (EKR) vereinten – auch Heimat der polnischen PiS.

Drei Varianten für Orbán

"Die andere Variante wäre die Fraktion Identität und Demokratie (ID) - dort finden sich Abgeordnete der italienischen Lega, des französischen Front National und auch der deutschen AfD", sagt Lang. Möglicherweise bemühe man sich auch darum, die Lega aus der ID herauszulösen, um mit dieser und der PiS eine neue Fraktion zu gründen.

Fidesz ist für potentielle Partner attraktiv – denn der ungarische Bürgerbund kann durchaus politisches Gewicht in den Ring schmeißen: "Im Europäischen Parlament verfügt man über ein Dutzend Abgeordnete, auf nationaler Ebene hat Fidesz eine starke Mehrheit in der Legislative und stellt natürlich den Ministerpräsidenten. Dadurch hat die Partei einen Platz am Tisch der Staats- und Regierungsschefs, also im Europäischen Rat", erklärt Experte Lang.

Große Fraktion rechts der EVP?

Dass die gemäßigteren und radikaleren Kräfte rechts von der EVP in einer großen Fraktion zusammenarbeiten und Fidesz als Scharnier dazwischen fungiert, hält der Experte indes für unwahrscheinlich.

"Die Differenzen zwischen einigen dieser Parteien aus diesem Spektrum sind beachtlich", erinnert er. "Ich glaube auch nicht, dass Fidesz etwas Eigenes aufbaut", so Lang weiter. Der große Aufschwung oder der umfassende Neuanfang der europäischen Rechten – in Langs Augen wird er ausbleiben. "Es wird eher zu einer begrenzten Neugliederung kommen", schätzt der Experte.

Leidiger Frage entledigt

Auch für die EVP hat der Austritt Konsequenzen – auch wenn sie größte Fraktion bleibt. "Die EVP wird ohne Fidesz mit seinem national-konservativen Profil stärker in die Mitte rücken und auch ein Stück weit kohärenter", meint Lang. Mit dem Weggang von Fidesz habe sich die EVP aber einer leidigen Frage entledigt: "Es war schließlich über viele Jahre ein Eiertanz, wie man es mit Fidesz halten sollte", erinnert der Experte. Er hält es zwar für nicht ausgeschlossen, dass weitere Parteien Orbáns Schritt zum Vorbild nehmen, aber es deute wenig darauf hin, dass dies in nächster Zeit geschehen könnte.

Ein Kandidat, an den man denken könnte, wäre der slowenische Regierungschef Janez Janša, der als enger Verbündeter Orbáns gilt. Sollte Janša mit seiner Slowenischen Demokratischen Partei (SDS) austreten, wäre das aus Sicht von Experte Lang durchaus sichtbar. "Auch wenn die SDS nur zwei Abgeordnete im Europäischen Parlament stellt: Dann würde der EVP ein weiterer Ministerpräsident abhandenkommen", erinnert er.

Zwar würde die EVP nicht zerfallen, aber es würde deutlich, dass ihr Konsolidierungsprozess noch nicht abgeschlossen sei, so der Experte. Allerdings werde Janez Janša diesen Schritt in Anbetracht der nahenden slowenischen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2021 kaum machen wollen.

Künftig mehr Brüssel-kritische Töne

Dass Orbáns Austritt ein entscheidender innenpolitischer Faktor für Ungarn ist, glaubt Lang nicht. "Orbán hat aufgrund der Mehrheitsverhältnisse in Ungarn ohnehin eine qualifizierte Mehrheit, mit der er auch die Verfassung ändern konnte und viele andere Maßnahmen ergriffen hat", erinnert er. Fidesz habe bereits seit einem Jahrzehnt die Politik der tiefgreifenden inneren Reformen vorangetrieben und sich dabei nie großartig von außen oder Partnerparteien bremsen lassen.

"Sicherlich gab es hier und da aber wohl Entscheidungen, bei denen die Mitgliedschaft in der EVP eine gewisse moderierende Wirkung hatte", räumt Lang ein. Er erwartet in Zukunft noch mehr Brüssel-kritische Töne – denn die ungarischen Parlamentswahlen im Frühjahr 2022 werfen bereits ihre Schatten voraus.

Über den Experten: Dr. Kai-Olaf Lang ist Politikwissenschaftler und Senior Fellow am Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Transformation, die politischen Entwicklungen und die Außen- und Sicherheitspolitik der Länder Mittel- und Osteuropas.

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