Das politische Österreich steht Kopf. Nicht nur, dass die Ibiza-Affäre die Koalition aus ÖVP und FPÖ gesprengt hat. Auch Bundeskanzler Sebastian Kurz muss um seinen Posten bangen. Unabhängig davon, ob der Regierungschef stürzt oder nicht, stehen dem Land turbulente Monate bevor.

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Die Ibiza-Affäre der FPÖ-Politiker Heinz-Christian Strache und Johann Gudenus mit einer vermeintlichen russischen Oligarchen-Nichte wird in Österreich noch lange nachwirken. Die wichtigsten Fragen und Antworten zur politischen Zukunft des Landes.

Stürzt Kanzler Sebastian Kurz?

Wenngleich Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) nicht in die Ibiza-Affäre verwickelt ist, muss er jetzt um seinen Posten bangen. Am Montag will das Parlament über einen Misstrauensantrag gegen Kurz abstimmen.

"Die Schlüsselfragen sind: 'Wie verhält sich die FPÖ und wie verhält sich die SPÖ'?", sagt Politologe Peter Filzmaier von der Donau-Universität Krems im Gespräch mit unserer Redaktion. Denn die Stimmen der beiden Parteien würden genügen, um Kurz um sein Amt zu bringen.

Auf den ersten Blick sieht es nicht gut aus für den Kanzler. Der von Kurz geschasste Innenminister Herbert Kickl von der FPÖ sagte am Dienstag: "Es wäre fast naiv von Kurz, anzunehmen, dass wir Freiheitliche nach dem Misstrauen von Kurz gegen uns kein Misstrauen gegen ihn haben."

SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner ist der Meinung, Kurz trage die Verantwortung für das Chaos und will seinen Rücktritt.

Allerdings kann sich Experte Filzmaier gut vorstellen, dass sich viele SPÖ-Abgeordnete scheuen, Kurz zu stürzen, und zwar "aus staatspolitischer Verantwortung". Denn anders als in Deutschland gibt es in Österreich kein konstruktives Misstrauensvotum, bei dem das Parlament direkt einen Nachfolger bestimmt. "Würde Kurz fallen, wäre Österreich zunächst regierungslos."

Seit 1945 war deshalb in Österreich nie ein Misstrauensantrag erfolgreich. "Ganz gleich, wie heillos zerstritten die Regierungen waren, hatten sie immer den Minimalkonsens, Misstrauensanträge nicht zu unterstützen", sagt Filzmaier - und wagt doch keine Prognose, wie es diesmal ausgehen wird.

Dass der Bundeskanzler einen Minister zur Entlassung vorschlägt, habe es in der Geschichte Österreichs schließlich auch noch nie gegeben - bis gestern. "Österreich befindet sich in einer Ausnahmesituation. Unsere Verfassung ist ein Steuerungsinstrument, das gute Möglichkeiten vorgibt, aber wir steuern mittlerweile in unbekannte Gewässer."

Kann Bundespräsident Alexander Van der Bellen noch etwas ausrichten?

Eine Schlüsselrolle als Vermittler zwischen den Parteien kommt in diesen Tagen dem parteilosen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen zu. "Er wird Vertreter aller Parteien in die Hofburg laden und hinter der Tapetentür ausloten, welche Regierung für die nächsten Monate eine halbwegs tragfähige Mehrheit im Nationalrat hat", sagt Filzmaier.

Dass Van der Bellen anderweitig von seiner Macht Gebrauch macht, hält er hingegen für unwahrscheinlich. Theoretisch könnte der Bundespräsident die gesamte Regierung entlassen oder den Nationalrat auflösen. Doch das würde die Situation nicht einfacher machen.

Wie geht es weiter, wenn Kurz Kanzler bleibt?

Sämtliche Minister der FPÖ sind zurückgetreten. Sofern Sebastian Kurz Kanzler bleibt, werden sie durch Spitzenbeamte oder andere fachliche Experten des jeweiligen Ressorts ersetzt. Diese sogenannte Expertenregierung hätte das Sagen, bis Neuwahlen durchgeführt sind und eine neue Regierung steht.

Die Experten ernennt der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers - und da sieht Filzmaier schon das nächste Problem. "Wenn es eine Expertenregierung gibt, können die Experten einem schon jetzt leid tun, weil vermutlich jenseits jeder Sachdebatte eine Schlammschlacht zwischen den Parteien stattfinden wird um die Frage, welcher Experte welcher Partei gewogen ist oder nicht."

Wie geht es weiter, wenn Kurz gehen muss?

Für den Fall, dass der Kanzler ein Misstrauensvotum verliert, sieht die Verfassung vor, dass der Bundespräsident einen neuen Kanzler ernennt und diesen mit der Regierungsbildung beauftragt.

Theoretisch kann er jeden Österreicher über 18 Jahren zum Kanzler machen - das ist praktisch aber leichter gesagt als getan. "Realpolitisch muss sich der Bundespräsident die Frage stellen, ob diese Person nicht gleich wieder einen Misstrauensantrag an der Backe hätte."

Wer könnte bei Neuwahlen von der Ibiza-Affäre profitieren?

Unabhängig vom Ergebnis des Misstrauensantrags stehen Österreich Neuwahlen bevor. Sie sollen voraussichtlich im September stattfinden.

Jetzt schon eine Prognose abzugeben, wer bei Neuwahlen profitieren wird, hält Filzmaier für unseriös - allein schon, weil nicht klar ist, welche Parteien auf dem Stimmzettel stehen werden. "Bei den letzten beiden Nationalratswahlen ist jeweils eine ganz neue Partei angetreten und hat es ins Parlament geschafft. Bei der derzeitigen Stimmungslage, da die traditionelle Politik weiter an Ansehen verloren hat, hätte eine neue Gruppierung wohl wieder gute Chancen."

Welche Rolle spielt die Ibiza-Affäre für die Europawahl?

Filzmaier ist überzeugt: "Einer der großen Verlierer der Ibiza-Affäre ist die Europawahl als solche, denn dass jetzt noch europäische Sachfragen im Mittelpunkt stehen, glaubt nicht einmal mehr der größte Optimist. Zumindest in Österreich überlagert die Affäre die Berichterstattung über die Europawahl komplett."

Für das Ergebnis wird aus seiner Sicht entscheidend sein, welche Parteien es in den kommenden Tagen schaffen werden, jene Wähler zu mobilisieren, die bislang nicht vorhaben, an die Urne zu gehen.

Verfängt die Wir-müssen-jetzt-zusammenhalten-Formel der Rechten? Gelingt es den Konservativen, entrüstete Rechte auf ihre Seite zu ziehen? Oder locken Sozialdemokraten und andere Mitte-Links-Parteien mit der Logik, wer schon nicht wegen Europa zur Wahl gehe, solle wenigstens zur Wahl gehen, um ein Zeichen gegen Rechts zu setzen?

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Professor Peter Filzmaier. Der Politologe hat die Professur für Demokratiestudien und Politikforschung der Donau-Universität Krems inne und fungiert als Politik-Experte des ORF.
  • dpa
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