- Für gewöhnlich gibt sich der Präsident des Robert Koch-Instituts eher nüchtern.
- Bis jetzt: In einer Brandrede schildert Lothar Wieler, wie alarmierend die Corona-Lage in Deutschland ist - und wie groß sein Frust über die Politik.
Der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, hat ein dramatisches Bild der Corona-Lage in Deutschland gezeichnet. "Wir laufen momentan in eine ernste Notlage. Wir werden wirklich ein sehr schlimmes Weihnachtsfest haben, wenn wir jetzt nicht gegensteuern", sagte Wieler am Mittwochabend bei einer Online-Diskussion mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU).
Die Zahl der Neuinfektionen steige steil an, und tatsächlich dürfte sie weitaus höher sein als bekannt: "Die Untererfassung der wahren Zahlen verstärkt sich."
Hinter den mehr als 50.000 Infektionen, die derzeit pro Tag neu registriert würden, "verbergen sich mindestens noch einmal doppelt oder dreimal so viele", so der RKI-Chef.
Politik ringt um Gegenmaßnahmen zur aktuellen Corona-Situation
Die Politik ringt derweil um Gegenmaßnahmen. Am Donnerstag will der Bundestag über die von den mutmaßlichen künftigen Regierungsfraktionen SPD, Grüne und FDP ausgearbeiteten neuen Maßnahmen abstimmen. Große Kritik an den Plänen kommt von der Union. Sie droht damit, dem Regelwerk am Freitag im Bundesrat die nötige Zustimmung zu verweigern, weil es nicht weit genug gehe.
Am Donnerstagmittag beraten zudem die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten mit der geschäftsführenden Kanzlerin Angela Merkel (CDU) über das weitere Vorgehen. Dabei soll es um eine einheitliche Linie etwa bei Zugangsregeln, Alarmschwellen der Klinikbelastung und mehr Impfungen gehen.
Wieler: "Waren noch nie so beunruhigt wie jetzt"
Zuletzt seien 0,8 Prozent der Erkrankten gestorben. Das bedeute, dass von den mehr als 50.000 Infizierten pro Tag in den nächsten Wochen 400 sterben würden. "Daran gibt es nichts mehr zu ändern." In der Bundespressekonferenz habe er zuletzt noch etwas zurückhaltender von 200 Toten pro Tag gesprochen, tatsächlich sei die Zahl aber höher. Niemand könne diesen Menschen noch helfen, selbst mit bester medizinischer Versorgung nicht.
Auch die Lage in den Krankenhäusern wird laut Wieler immer schlimmer. "Wir waren noch nie so beunruhigt wie jetzt", sagte der RKI-Chef. Die Zahl der schwerkranken Covid-Patienten steige, für Menschen mit Schlaganfall und andere Schwerkranke müsse mancherorts bis zu zwei Stunden nach einem freien Intensivbett gesucht werden. "Die Versorgung ist bereits in allen Bundesländern nicht mehr der Regel entsprechend." Und das werde noch zunehmen.
"Sie sehen, die Prognosen sind superdüster. Sie sind richtig düster", sagte Wieler. "Wir sind in einer Notlage, und in einer Notlage muss man bestimmte Dinge großzügig gestalten."
RKI-Chef erhebt schwere Vorwürfe gegen Politik
Wieler warf der Politik schwere Fehler und Versäumnisse vor. "Wir haben zu schnell in zu vielen Bereichen geöffnet", kritisierte er. "Clubs und Bars sind Hotspots, aus meiner Sicht müssen die geschlossen werden." Großveranstaltungen müssten abgesagt werden. In der Bevölkerung gebe es viel zu viele Kontakte, dabei wisse man schon aus der ersten Corona-Welle, dass Kontakteinschränkungen wirksam seien.
Zugleich plädierte Wieler für die konsequente Durchsetzung von 2G-Regeln, also den Zutritt zu vielen Bereichen nur für Geimpfte und Genesene. "Wir dürfen denen, die sich nicht impfen lassen, wirklich nicht die Chance geben, die Impfung zu umgehen, zum Beispiel, indem sie sich freitesten lassen", sagte er. Um das Impf-Tempo zu erhöhen, sollte auch in Apotheken geimpft werden.
"Ich sag das jetzt mal ganz klar: Es muss jetzt Schluss sein, dass irgendwer irgendwelchen anderen Berufsgruppen aufgrund von irgendwelchen Umständen nicht gestattet, zu impfen. Wir sind in einer Notlage", betonte Wieler. "Jeder Mann und Maus, der impfen kann, soll jetzt gefälligst impfen. Sonst kriegen wir diese Krise nicht in den Griff."
Wieler forderte die Politik dazu auf, endlich zu handeln. "Wir müssen nicht ständig etwas Neues erfinden. Alle diese Konzepte und Rezepte sind vorhanden", sagte er. "Das ist 'ne klare Sprache, aber ich kann nach 21 Monaten es auch schlichtweg nicht mehr ertragen, dass es nicht vielleicht erkannt wird, was ich unter anderem sage und auch viele andere Kolleginnen und Kollegen."
Ampel-Koalition will Ländern harte Maßnahmen ermöglichen
Vor diesem Hintergrund wollen die Ampel-Fraktionen zügig das neue Regelwerk in Kraft setzen. Damit wollen SPD, Grüne und FDP eine Rechtsgrundlage für Auflagen vor Ort schaffen, wenn die bisher vom Bundestag festgestellte "Epidemische Lage von nationaler Tragweite" zum 25. November ausläuft.
Die Länder sollen - wenn es ihr Parlament beschließt - weiter harte Maßnahmen ergreifen können, etwa Einschränkungen und Verbote von Veranstaltungen in Freizeit, Kultur und Sport. Gottesdienste und Tourismus etwa sollen nicht mehr eingeschränkt werden. Das Regelwerk sieht auch vor, dass Fälschern von Corona-Tests, Genesenen- oder Impfnachweisen im schlimmsten Fall bis zu fünf Jahre Gefängnis drohen.
Wer Busse, Bahnen und hierzulande startende Flugzeuge nutzt, muss demnach künftig nachweisen können, dass er geimpft, genesen oder getestet ist - Ausnahmen gibt es unter anderem für Kinder. Zugang zu Pflegeheimen, Kliniken und Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen sollen Beschäftigte und Besucher nur mit einem tagesaktuellen negativen Test bekommen.
Union kann Ampel-Pläne im Bundesrat blockieren
Die Union ist derzeit an 10 von 16 Landesregierungen beteiligt und könnte mit ihren Stimmen im Bundesrat eine Zustimmung verhindern. NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst ließ am Mittwochabend offen, ob die Union die Gesetzespläne in der Länderkammer wirklich blockieren wird. "Wir wollen jetzt erst einmal abwarten, was der Bundestag beschließt." Grünen-Chef Robert Habeck sagte am Mittwochabend in der Sendung "RTL Aktuell Spezial": "Wenn dieser Gesetzentwurf im Bundesrat blockiert wird, haben wir keine gesetzliche nationale Grundlage mehr, dann fallen wir zurück auf den Stand vor der Pandemie."
CDU-Vize Thomas Strobl warf der angehenden Ampel-Regierung vor, auf die ungebremst steigenden Corona-Infektionszahlen viel zu spät reagiert zu haben. Der geschäftsführende Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) forderte die Ampel-Parteien in den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland abermals auf, die epidemische Lage nationaler Tragweite doch noch zu verlängern.
Unterdessen warnte Kassenärzte-Chef Andreas Gassen vor Panikmache. "Die Lage ist schwierig, aber für Panik besteht kein Anlass", sagte Gassen dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Insbesondere von einigen Politikern und Experten wird versucht, die Ampel-Parteien mit düsteren Szenarien und fast schon hysterisch anmutenden Warnungen extrem unter Druck zu setzen", meinte er. Bisher hätten SPD, Grüne und FDP aber einen kühlen Kopf bewiesen. (dpa/fte)
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