3.300 Betroffene wurden befragt, dazu 60 Polizisten, Richterinnen, Anwälte und Vertreter von Opferberatungsstellen: Ein Forscherteam hat das Phänomen Polizeigewalt in Deutschland untersucht. "Es braucht mehr unabhängige Ermittlungs- und Beschwerdestellen", sagt die Studien-Mitautorin und Kriminologin Laila Abdul-Rahman im Gespräch mit unserer Redaktion. Denn die meisten Fälle haben vor Gericht keinen Erfolg.
Frau Abdul-Rahman, was hat Sie an den Ergebnissen der Studie über Polizeigewalt in Deutschland am meisten schockiert?
Laila Abdul-Rahman: Wir waren überrascht, wie gering die Erfolgsaussichten und die Beschwerdemacht bei den Betroffenen von übermäßiger Gewalt durch die Polizei sind. Im Voraus war uns schon klar, dass über 90 Prozent der Verfahren von den Staatsanwaltschaften eingestellt werden. Dass aber auch die meisten Rechtsanwälte davon abraten, Polizeibeamte anzuzeigen, weil die Erfolgsaussichten so gering sind und zum Beispiel das Risiko besteht, dann selbst angezeigt zu werden: Dieses massive strukturelle Problem hat uns bei der Auswertung der Studie überrascht. Viele Betroffene verlieren ihr Vertrauen in den Rechtsstaat.
Wie gering sind die Erfolgschancen?
Nur in zwei Prozent der Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte folgt eine Anklage oder ein Strafbefehlsantrag, die restlichen Verfahren werden eingestellt. Verglichen mit der durchschnittlichen Anklagequote, die etwa im Jahr 2021 bei 22 Prozent lag, ist das ein sehr niedriger Wert.
Laila Abdul-Rahman: "Nur sehr selten sagt ein Polizeibeamter gegen einen anderen aus"
Warum sind Opfer von Polizeigewalt vor der Justiz oft chancenlos?
Erstens ist die Beweislage sehr schwierig, weil es häufig nur die Aussage der betroffenen Person gibt. Dann steht Aussage gegen Aussage. Oft gibt es keine weiteren Zeugen - und Polizeibeamte sind mindestens zu zweit unterwegs. Dazu sagt nur sehr selten ein Polizeibeamter gegen einen anderen aus, weil dies unter den Kolleginnen und Kollegen mit einer hohen Hemmschwelle verbunden ist. Ein weiterer Aspekt ist die Glaubwürdigkeit, die die Beamten generell vor Gericht genießen. Das ist verständlich, da beide Institutionen oft zusammenarbeiten und aufeinander angewiesen sind. Das ist in den meisten anderen Verfahren kein Problem. Wenn aber in Verfahren gegen Polizeibeamte wegen übermäßiger Gewalt grundsätzlich den Aussagen der Beamten mehr geglaubt wird als der Aussage eines Betroffenen, ist das aus rechtsstaatlicher Sicht ein Problem.
Wer sind die Opfer?
In unserer Befragung gaben viele an, polizeiliche Gewalt auf einer Großveranstaltung erlebt zu haben, zum Beispiel bei einer Demonstration oder einem Fußballspiel. Es geht aber auch um Personen- und Verkehrskontrollen oder Konflikte, zu denen Beamte gerufen werden. Zur Eskalation kam es aber auch, wenn Menschen einen Polizeieinsatz dokumentiert, also gefilmt, haben, den sie als rechtswidrig bewertet haben.
Grundsätzlich sind bestimmte marginalisierte Gruppen, wie Menschen mit Migrationshintergrund, People of Color (Menschen mit Rassismuserfahrungen in weißen Mehrheitsgesellschaften, Anm. d. Red.) oder Wohnungslose spezifischen Risiken im Kontakt mit der Polizei ausgesetzt. Das hängt mit einem bestimmten Diskriminierungsrisiko zusammen, wie uns Interviews mit Betroffenen, Polizeibeamten, Opferberatungsstellen und Nichtregierungsorganisationen gezeigt haben. Es wurde etwa berichtet, dass mit diesen Personen zum Beispiel anders gesprochen wird oder teilweise ein respektloserer Umgang stattfindet. Auch die Hemmschwelle für Gewalt kann dann eine andere sein.
Unterschiede bei Fußballspielen, Personenkontrollen und Demonstrationen
Spielen dabei Geschlecht und Herkunft eine Rolle?
Es hängt natürlich immer von der jeweiligen Situation ab, aber beide Faktoren haben einen großen Einfluss. Bei Fußballspielen berichteten meistens Männer ohne Migrationshintergrund von übermäßiger polizeilicher Gewalt. People of Color nannten häufiger Personenkontrollen, bei denen es zu Gewalt kam. Bei Demonstrationen oder politischen Aktionen sehen wir hingegen den höchsten Frauenanteil, wie aktuell zum Beispiel auch bei den Klimaprotesten sichtbar wird.
Kann man in der Polizei von einem Korpsgeist sprechen - also einer verschworenen Gemeinschaft wie im Militär?
Da ist sicher das Ende des Extrems und das mag es in einigen Dienstgruppen geben. Ich würde aber eher von einem starken Teamgeist sprechen. Man muss sich aufeinander verlassen können, arbeitet sehr eng zusammen. Es fällt dann schwer, gegen Kollegen auszusagen. Eher wird dann etwa vor Gericht gesagt, dass man sich nicht mehr genau an die Situation erinnern könne. Dabei muss es sich nicht um bewusste Täuschungsversuche oder Lügen handeln, aber es gibt hohe Hürden, das Verhalten von Kollegen in Frage zu stellen.
Gleichzeitig bestätigten uns Polizeibeamte in Interviews, dass man nach einer Aussage gegen einen Kollegen Nachteile in der Gruppe erfahren kann. Beispielweise durch Ausgrenzung, durch Gerede über die eigene Person. Das ist aber nicht in jeder Dienstgruppe so und kommt auch auf die jeweilige Führungskultur an. Wird Fehlverhalten gesehen und besprochen oder wird propagiert, dass man immer alles richtig macht?
Haben Sie auch direkt mit Betroffenen gesprochen?
Direkte Interviews haben wir mit den Personen nicht geführt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben einen Online-Fragebogen ausgefüllt, wo in eigenen Worten die Situation in Freitextfeldern geschildert werden konnte. Weitere, tiefergehende Einblicke haben wir durch qualitative Interviews mit Beratungsstellen und Nichtregierungsorganisationen bekommen, die engen Kontakt mit Betroffenen haben.
"Viele Betroffene gehören marginalisierten Gruppen an"
Wie unabhängig und wie objektiv ist Ihre Studie?
Wir haben eine Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft erhalten, die von unabhängigen Gutachtern geprüft und bewilligt wurde. Wir sind also unabhängig und forschen objektiv. Unser Studiendesign ist wissenschaftlich anerkannt, aber keine repräsentative Befragung der deutschen Bevölkerung. Die Erfahrung polizeilicher Gewalt ist in der Gesamtbevölkerung sehr unterschiedlich verteilt, und durch vorherige Recherchen war davon auszugehen, dass viele Betroffene marginalisierten Gruppen angehören. Etwa durch eine Telefonbefragung wären diese schwierig zu erreichen gewesen.
Die Gewerkschaft der Polizei sagte vor Kurzem, dass es sich bei "rechtswidriger Polizeigewalt" nur um Einzelfälle handele. Hat die deutsche Polizei ein Gewaltproblem?
Unsere Daten geben keine genaue Zahl her, wie groß das Problem ist. Es gibt aber Probleme in der Aufarbeitung von Vorwürfen rechtswidriger Gewalt – das sagen uns nicht nur die Betroffenen, sondern auch Rechts- und Staatsanwälte sowie Richter. Nur neun Prozent der Befragten haben Anzeige erstattet. Der große Rest bleibt im Dunkelfeld. Das ist für unseren Rechtsstaat ein ernstzunehmendes Problem, da hier etwas strukturell schiefläuft – und es eben keine Einzelfälle sind. Das zeigt auch der gesellschaftliche Diskurs, in dem Polizeigewalt Einzug erhalten hat, sowie Opferinitiativen, die auf die Vielzahl der Fälle und auf die herrschende Machtlosigkeit aufmerksam machen.
Wie denkt denn die Mehrheit der Polizistinnen und Polizisten über Gewalt in den eigenen Reihen?
Die vor kurzem durchgeführte Megavo-Studie – "Motivation, Einstellung und Gewalt im Alltag von Polizeivollzugsbeamten" – von der Deutschen Hochschule der Polizei kam zu dem Ergebnis, dass es durchaus Beamte gibt, die Fehlverhalten von Kolleginnen und Kollegen beobachten. Die Mehrheit sieht aber kein Gewaltproblem, sondern hat ein eher positives Bild von sich. Trotzdem schauen viele kritisch auf die eigene Institution, wie wir in Interviews und im Nachgang der Studie mitbekommen haben. Es gab positives Feedback von einigen Polizeibeamten.
Forderung nach mehr unabhängigen Ermittlungs- und Beschwerdestellen
Wie kann der "Freund und Helfer" selbst zur Problemlösung beitragen?
Die Frage ist doch, welche Probleme durch Gewaltanwendungen gelöst werden sollen. Wie gefährlich sind beispielsweise Schmerzgriffe und andere Techniken? Das muss gesellschaftlich diskutiert werden. Außerdem wäre eine andere Sicht der Polizei auf Gewalt vonnöten, da es in den letzten Jahren eine starke Aufrüstung gab. Forderungen nach einem härteren Auftreten, nach mehr Gewaltanwendung und mehr Gewaltmitteln, wie Elektrotaser, zeigen das. Alles durchzusetzen, ohne zurückzuweichen - wenn man mit dieser Haltung in jeden Einsatz fährt, erhöht sich das Eskalationsrisiko definitiv. Gewalt muss wieder als Ausnahme begriffen werden, wie es im Grundgesetz vorgesehen ist.
Und was können Politik und Gesellschaft tun?
Es braucht mehr unabhängige Ermittlungs- und Beschwerdestellen. In europäischen Nachbarländern gibt es solche Stellen bereits, etwa in Dänemark. In Deutschland gibt es in einigen Bundesländern schon unabhängige Polizeibeauftragte, die solche Fälle bearbeiten. Da ist häufig die schlechte Ausstattung das Problem, also zum Beispiel zu wenige Mitarbeiter und begrenzte Ermittlungsbefugnisse. Das ist noch stark ausbaufähig.
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