Die Kommunen seien überlastet, heißt es oft, wenn es um die Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten geht. Stimmt das? Und was heißt das konkret?
Wissenschaftler der Uni Hildesheim habe in den vergangenen 14 Monaten zweimal Kommunen gefragt, wie sie mit der Unterbringung und Integration von Flüchtlingen zurechtkommen. "Am Limit?" haben sie ihre Arbeit überschrieben und damit eine der in diesem Zusammenhang wohl am häufigsten gebrauchten Formulierungen aufgegriffen. Herausgefunden haben sie, dass die Mehrheit der rund 800 Städte und Gemeinden, die teilgenommen haben, die Aufnahme von Geflüchteten als herausfordernd, aber machbar empfindet. Der Anteil derer, die sich überlastet sehen, ging zwischen der ersten Befragung im Oktober 2023 und der zweiten im Mai 2024 von 40 auf 23 Prozent zurück.
Zu einem vergleichbaren Ergebnis kam das Institut für Demokratische Entwicklung und Soziale Integration in Befragung im August und September, an der rund 600 deutsche Kommunen teilnahmen. Fünf Prozent gaben an, überlastet zu sein, 35 am Limit. 47 Prozent nannten die Situation herausfordernd, aber machbar, knapp 14 Prozent entspannt.
Herausfordernd, aber machbar – was heißt das konkret? Der Augsburger Landrat Martin Sailer (CSU), der für seinen Zuständigkeitsbereich ebenfalls diese Antwortmöglichkeit gewählt hätte, gibt im Interview Einblick in die Lage vor Ort.
Herr Sailer, hat der Sturz des Assad-Regimes in Syrien die Flüchtlingssituation bei Ihnen vor Ort verändert?
Martin Sailer: Nein. Noch kommen deshalb nicht weniger Menschen bei uns an. Und pauschale Rückkehrforderungen an geflüchtete Syrerinnen und Syrer sind aus meiner Sicht zum jetzigen Zeitpunkt weder menschenrechtlich noch politisch tragbar.
Wie schwierig ist es derzeit, alle Neuankömmlinge unterzubringen?
Derzeit bekommen wir deutlich weniger Zuweisungen als noch vor einem Jahr und konnten bislang immer so viele Unterkünfte organisieren, wie wir brauchen. Aber wir arbeiten auf Sicht. Sollte der Zustrom größer werden oder wir weniger neue Unterkünfte finden, stehen wir binnen drei, vier Wochen blank da.
Und dann?
Dann wird es sogenannte Notunterkünfte geben müssen. Wir haben im Kreistag beschlossen, dass wir Turnhallen nicht zur Verfügung stellen, weil Schüler und Vereine die brauchen. Während der Pandemie mussten sie schon viel zu lange auf Bewegung verzichten. Wir müssten dann also Zelte aufstellen. Der Staat sollte alles daran setzen, das zu verhindern.
Wie soll das Ihrer Meinung nach aussehen?
Erstens, indem wir den Zustrom reduzieren. Zweitens, indem nur jene Menschen in die Kommunen verteilt werden, die eine hohe Bleibeperspektive haben. So hat es der Freistaat eigentlich versprochen. De facto werden aber alle verteilt, weil Bayern nicht nachkommt, mehr zentrale Aufnahmestellen, sogenannte Ankerzentren, zu errichten. Ich glaube, wenn nur die Menschen in die Kommunen kämen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit bleiben dürfen, gäbe es vor Ort eine viel höhere Akzeptanz.
Wie erleben Sie die Akzeptanz denn? In Umfragen sagen heute rund 80 Prozent der Deutschen, dass die Nachteile von Zuwanderung die Vorteile überwiegen.
Die Stimmung ist heute eine ganz andere als 2015/2016. Damals haben sich sehr viele Ehrenamtliche bereiterklärt, die Geflüchteten zu unterstützen, mit ihnen zum Arzt zu gehen, zu erklären, wie man den öffentlichen Nahverkehr nutzt, wie sie sich vor Ort zurechtfinden. Heute engagieren sich höchstens noch ein Drittel so viele Menschen wie damals.
Warum hat sich der Wind gedreht?
Ich denke, das liegt zum einen daran, dass wir heute deutlich über doppelt so viele Migranten vor Ort haben als damals. Die, die in den vergangenen zehn Jahren gekommen sind, sind ja überwiegend nicht wieder gegangen. Stetig kommen neue Menschen, seit 2022 auch viele ukrainische Geflüchtete. Außerdem hat sich die wirtschaftliche Situation geändert. Dass wir in eine Rezession gehen, löst bei vielen Menschen Zukunftsangst aus.
Diese Menschen fliehen vor Krieg, Hunger und Perspektivlosigkeit und wir sprechen von Zukunftsangst?
Ja! Wir sind nur noch in dem Modus, die Geflüchteten unterzubringen. Für ihre Integration, die für das Zusammenleben substanziell wäre, bleibt nicht genug Kapazität. Sprachkurs, Wohnungen, Vermittlung in Arbeit – wir kommen nicht hinterher. Es gibt zu wenig Kitaplätze, an den Mittelschulen fehlen Lehrer.
Der Kreis Augsburg bekommt pro Woche ungefähr 25 neue Geflüchtete zugeteilt. Das klingt überschaubar.
So einfach ist es aber nicht. Wenn sie anerkannt sind, sollten die Geflüchteten ja eigentlich aus den Unterkünften ausziehen. Viele finden aber keine Wohnung. Wir könnten sie zwar aus den Unterkünften verweisen. Das wollen wir aber nicht, weil die Menschen dann obdachlos wären und wir das Problem nicht gelöst, sondern nur auf die Kommunen verlagert hätten, die für Obdachlose zuständig sind. Der Druck, neue Unterkünfte zu finden, ist deshalb immer da.
Das sagen die Zahlen:
- In Deutschland leben heute so viele Geflüchtete wie noch nie. Rund 3,48 Millionen waren es Ende Juni. Das entspricht etwa vier Prozent der Bevölkerung.
- 2024 haben bis Ende November 236.000 Menschen in Deutschland Asyl beantragt. Das sind etwa ein Viertel weniger als im Vorjahr und ein Drittel so viele wie in der Hochphase 2016.
- Sturz Assad in Syrien ...
- Neu ankommende Geflüchtete werden nach dem sogenannten Königsberger Schlüssel auf die Bundesländer verteilt. Er berücksichtigt Steueraufkommen und Bevölkerungszahl. Daraus ergibt sich, dass Nordrhein-Westfalen die meisten Geflüchteten aufnimmt (21 Prozent), gefolgt von Bayern (15 Prozent) und Baden-Württemberg (13 Prozent).
- Die Landesregierungen weißen den Bezirken Geflüchtete zu, diese wiederum den Städten und Landkreisen. Im Kreis Augsburg, wo wir uns umgehört haben, leben derzeit (Stand Juni) rund 6.200 Geflüchtete, darunter 2.500 Menschen aus der Ukraine.
- Aktuell kommen jeden Monat rund 100 Geflüchtete neu im Kreis Augsburg an.
Wie kommt der Landkreis an Immobilien?
Die Kommunen melden uns Gebäude, die infrage kommen könnten. Außerdem bekommen wir Angebote von Privatpersonen, auch, weil wir immer wieder öffentliche Aufrufe machen.
Mit der Suche nach Immobilien ist es noch nicht getan.
Ausstattung, Brandschutz, Technik – alle Objekte zu betreuen ist eine enorme Aufgabe. Wir sind quasi zu einer Hausverwaltung geworden.
Der Landrat des bayerischen Kreis Miesbach musste im April von der Polizei aus einer Bürgerversammlung in Warngau eskortiert werden, wo er am Ortsrand ein Containerdorf für Flüchtlinge errichten wollte. Besucher gingen auf das Polizeiauto los, Traktoren sorgten für eine Drohkulisse. Warum läuft es bei Ihnen offenbar besser als anderswo?
Die Freude bei den Anwohnern hält sich immer in Grenzen. Auch wir bekommen E-Mails und Briefe aus der Nachbarschaft oder die Leute wenden sich an die Presse. Aber meisten gibt es vor allem im Vorfeld bedenken. Wenn die Geflüchteten erst mal da sind, lösen die sich oft in Luft auf. Vielleicht auch, weil wir versuchen, in Wohngebieten möglichst nur Familien unterzubringen – was natürlich nur solange geht, wie wir nicht lauter Single-Männer zugewiesen bekommen.
Die rund 2.800 Bewohner von Asylunterkünften im Kreis Augsburg leben verteilt auf 85 Immobilien. Die beiden größten haben je 120 Plätze. Welche Rolle spielt die Größe der Unterkünfte?
Aus meiner Sicht sorgen kleine Einheiten eher für Akzeptanz bei der Bevölkerung. Auch weil das Potenzial für Konflikte unter den Geflüchteten umso größer ist, je mehr Menschen mit unterschiedlichen Nationalitäten, Gewohnheiten, Religionen auf engem Raum zusammenwohnen.
Lässt sich eine Eskalation wie im Kreis Miesbach verhindern?
Wir stehen in engem Austausch mit den Bürgermeistern. Ich denke, das trägt dazu bei, dass die Kommunen unsere Not sehen und keinen Widerstand organisieren. Außerdem versuche ich, den Druck, den wir spüren, die zurückgehende Bereitschaft vor Ort, an die Regierung von Schwaben zurückzugeben. Es muss wechselseitig Verständnis geben.
Verwendete Quellen:
- Interview mit Martin Sailer
- Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: "Aktuelle Zahlen"; Ausgabe November 2024
- statista.de: "Anzahl der Asylanträge in Deutschland von 2014 bis 2024"
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