Rabatte auf Straftaten, aufgehobene Haftbefehle und ewig andauernde Verfahren – die Folgen der Sparpolitik in der deutschen Justiz sind längst fatal. Ein Rechtswissenschaftler warnt davor nur "neue Stellen" zu fordern und zeigt, wie komplex die Ursachen der Überbelastung sind.
Das Positionspapier des deutschen Richterbundes (DRB) klingt alarmierend. "Der Rechtsstaat droht zu erodieren", aktuell entwickele sich die Justiz zum "Nadelöhr bei Strafverfolgung und effektivem Rechtsschutz" und eine "Pensionierungswelle" rolle sichtbar auf die Justiz zu. Der damit verbundene dringende Appell an die Politik lautet: Mehr Stellen, mindestens 2.000.
Das Bild der überbelasteten Justiz ist allgegenwertig: Verdächtige, die wegen verschleppter Verfahren aus der U-Haft entlassen werden müssen, machen Schlagzeilen.
Ende 2017 wurde ein Brandbrief der Strafkammern des Berliner Landgerichtes mit dem Tonus "Wir sind am Ende, wir können nicht mehr" publik und erst vor wenigen Tagen ließ die Hamburger Staatsanwaltschaft verlauten: "Über den Sommer werden wir Verwaltungsarbeiten liegen lassen."
Wachsende Aktenberge
Überforderung, Stau und eine immer dünner werdende Personaldecke. Steht die Justiz vor dem Kollaps?
"So drastisch würde ich es nicht formulieren, aber sie hat deutlich sichtbare Probleme", sagt Staats- und Verwaltungsrechtler Rainer Wernsmann von der Universität Passau. "Es gelingt nicht, freie Stellen zu besetzen und die Ausstattung ist unzureichend", so Wernsmann weiter.
Gespräche mit Kollegen aus der Praxis zeigten ihm immer wieder: Die Unzufriedenheit in der Justiz wächst. Neben riesigen Aktenbergen beklagen sie Überstunden, Vertretungen für unbesetzte Dezernate, sowie die unmoderne Ausstattung.
Gesamtgesellschaft leidet
"Nicht nur Richter leiden, sondern die Gesamtgesellschaft", urteilt Wernsmann. Das Arbeitsethos der Juristen sei hoch, sodass der reibungslose Ablauf lange auf ihren Schultern gewährleistet wurde.
Die Bürger sind aber längst in den unterschiedlichsten Formen betroffen: "Das beginnt bei der Baugenehmigung, auf die man ewig warten muss und endet bei kommunalen Abgabebescheiden, über deren Rechtmäßigkeit erst nach Jahren entschieden wird", so der Rechtswissenschaftler weiter.
Die Warnsignale reichen bereits weiter als eine verzögerte Rechtsprechung. "Durch den Stau drohen Verjährungen. In Strafverfahren kann es dazu kommen, dass Rabatte auf Strafen gewährt werden müssen, weil das Verfahren zu lange gedauert hat", so Wernsmann.
"Im vergangenen Jahr sind 51 Haftbefehle gegen dringend Tatverdächtige aufgehoben worden, weil die Strafverfahren zu lange dauerten", schreibt etwa "Die Zeit".
Justiz wurde heruntergewirtschaftet
Für Rechtswissenschaftler Wernsmann wurzelt die aktuelle Überbelastung auf mehreren Ebenen. "Die Justiz wurde heruntergewirtschaftet", sagt er. Stellenabbau und Personaleinsparungen auch in den Geschäftsstellen habe dazu geführt, dass immer mehr Arbeit auf die Richter abgewälzt wurde, darunter beispielsweise EDV-Tätigkeiten.
"Hinzukommt, dass die Fälle immer komplexer werden, Akten und Material somit umfangreicher", ergänzt Wernsmann. Darauf weist auch der DRB hin und nennt als Beispiele internationale Wirtschaftsstrafsachen, IT-Kriminalität und erweiterte Terrorismus-Strafbarkeit.
"Aus der Anzahl der bei den Gerichten eingehenden Fälle kann nicht auf den Personalbedarf geschlossen werden", so der Berufsverband.
Verfahrenszahl explodiert
Die Daten des Bundeskriminalamts und des Statistischen Bundesamt zeigen nämlich nur auf den ersten Blick eine Abnahme der zahlenmäßigen Belastung: Rückläufig sind beispielsweise angezeigte Straftaten und Fälle schwerer Straftraten.
Immer häufiger kommt es dazu, dass leichtere Vergehen wegen Geringfügigkeit eingestellt werden, wodurch immer weniger Fälle an den deutschen Strafgerichten landen. Auch die Zahl der Zivilverfahren und die Fälle an Arbeits- und Finanzgerichten ist zuletzt weiter gesunken.
Große Ausnahme: Die Verwaltungsgerichte. "Hier sind die Zahlen explodiert", sagt Wernsmann. "Durch die Zunahme der Asylfälle besteht ein erhöhter Bearbeitungsbedarf, jetzt kommen noch die Überprüfungen der Bescheide des BAMF hinzu", erklärt er. Von aktuell etwa 250.000 Verfahren ist die Rede.
Fatale Folgen einer Sparpolitik
"Es ist nicht geboten in Alarmismus zu verfallen, aber es besteht dringender Handlungsbedarf" lautet die Einschätzung von Wernsmann.
Die schwarz-rote Koalition hat zumindest 2.000 neue Stellen für Richter und Staatsanwälte in Bund und Ländern in Aussicht gestellt. So warnte der ehemalige Justizminister Heiko Maas im Gespräch mit dem "Hamburger Abendblatt" vor "fatalen Folgen einer falschen Sparpolitik". Die Menschen könnten das Vertrauen in den Rechtsstaat verlieren, wenn sie den Eindruck bekämen, dass sie ihr Recht nicht durchsetzen könnten.
Rainer Wernsmann erinnert daran: "Neue Stellen schaffen zu wollen ist gut, aber es werden überhaupt nicht genügend Kandidaten gefunden – zu wenige Absolventen wollen Richter werden."
Pensionierungswelle losgerollt
"Zu meiner Studienzeit war Richter für Viele ein Traumberuf, heute ist das für meine Studierenden nicht mehr so attraktiv", berichtet der Experte aus dem Unialltag.
Das hat auch der Deutsche Richterbund erkannt: "Die Justiz steht vor einer riesigen personellen Umwälzung, die Altersabgänge steigen in den nächsten 12 Jahren drastisch an. Gleichzeitig sind die Zahlen der Referendare seit Jahren rückläufig."
Rund 40 Prozent aller Juristen scheiden bis 2030 aus dem Dienst aus, die Justiz verliert mehr als 10.000 Richter und Staatsanwälte. Besonders hart trifft es die neuen Bundesländer.
Warum hat der Beruf des Richters so an Attraktivität eingebüßt? "Eine wichtige Rolle spielt die Bezahlung", weiß Wernsmann. Die Gehälter seien nicht konkurrenzfähig zu denen der Großkanzleien, die ebenfalls um die Besten eines Jahrgangs buhlen.
Staat nicht konkurrenzfähig
"Der Staat muss darauf achten, dass er den Kampf um die besten Leute überhaupt gewinnen kann", mahnt Wernsmann. "Der Pool, aus dem alle schöpfen wollen, wird kleiner, der Konkurrenzkampf härter", so der Universitätsprofessor. Abhilfe könne alleinig eine Verbesserung der Rahmenbedingungen bringen. "Die Steigerung der Attraktivität der Justiz" fordert auch der Richterbund und nennt Maßnahmen für familienfreundliche Strukturen, Besoldung und Arbeitsumfeld.
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