Die Polizei hat in Chemnitz am Montagabend erschreckend hilflos gewirkt. Die Beamten waren den Demonstranten zahlenmäßig unterlegen, hatten dem rechten Mob und den gewalttätigen Anhängern der Gegenseite wenig entgegenzusetzen. Schlägereien, Hitlergrüße, Flaschen und Steine fliegen - und die Polizei muss zusehen. Wie konnte das passieren?

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"Es ist noch völlig unklar, ob die Polizei diesen Mob hier jetzt stoppen wird. Momentan laufen die vollkommen ungestört durch die Stadt [...]. Die haben vor uns eine Polizeikette durchbrochen, haben sich eine Schlägerei mit Beamten geliefert, Reporter mit Steinen, Flaschen und Fahrradlenkern beworfen und sind einfach losmarschiert."

So beschreibt der Journalist Henrik Merker am Montagabend die Situation in Chemnitz. Er arbeitet für den ZEIT-Blog Störungsmelder und berichtete via Periscope live vom Aufmarsch gewalttätiger Neonazis und anderer Demonstranten.

Nach den Ausschreitungen vom Sonntag hatte die Chemnitzer Polizeipräsidentin Sonja Penzel noch am Nachmittag versichert, die Polizei werde nicht zulassen, dass Chaoten die Stadt vereinnahmen. Doch genau das ist passiert.

Rund 6.000 Menschen aus dem rechten Lager sind in Chemnitz auf die Straße gegangen, wie Sachsens Innenminister Roland Wöller am Dienstagmittag auf einer Pressekonferenz mitgeteilt hat.

Dazu kamen rund 1.000 die gegen rechte Gewalt demonstrierten. Dazwischen: 600 Polizisten.

Beobachter schätzten Teilnehmerzahl realistisch ein

Erst war die Stimmung nur angespannt. Demonstranten skandierten "Wir sind das Volk", zeigten den Hitlergruß. Irgendwann entluden sich Hass und Wut in Krawallen. Bengalos und Feuerwerkskörper wurden gezündet. Gegenstände flogen. Es gab Schlägereien.

Die Bilanz: mindestens 18 Verletzte - und jede Menge Kritik an der Polizei.

Die hat noch am Abend zugegeben, nicht mit so vielen Teilnehmern gerechnet zu haben. Beobachter wie Henrik Merker oder Johannes Grunert, ebenfalls freier Journalist, fragen sich, wie die Polizei zu einer solchen Fehleinschätzung kommen konnte.

Immerhin wurde der Aufruf zum Aufmarsch des rechten Bündnisses Pro Chemnitz schon am Sonntag weit über 2.000 mal geteilt.

Landespolizeipräsident Jürgen Georgie hat am Dienstag erläutert, wie die Polizei zu ihrer Einschätzung kam: Die Zahl der zu den Demos angemeldeten Teilnehmer habe sich auf 1.500 belaufen. Aufgrund von Erfahrungswerten hätten sich die Verantwortlichen "guten Gewissens" darauf verständigt, von der doppelten Anzahl an Demonstranten auszugehen.

Dass es am Ende fast fünfmal so viele wurden, habe auch an der "erheblichen Mobilisierung weit über Landesgrenze hinaus" gelegen, sagte Innenminister Wöller. Es seien Chaoten und Hooligans aus Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Thüringen, Berlin und Brandenburg angereist.

Ob die Polizei nur deshalb derart unterbesetzt war, weil sie die Situation unterschätzt hat? Oder ob schlichtweg nicht genug Polizisten verfügbar waren?

Angespannte Personalsituation

Zumindest die Gewerkschaft der Polizei (GdP) stellt einen Zusammenhang zur Personalsituation bei der Polizei her. Der jahrelange Abbau von insgesamt 16.000 Stellen habe dazu geführt, dass alle Einsatzkräfte stets verplant seien.

"Für Einsatzlagen wie in Chemnitz müssten sich stets mehrere hundert Kollegen in Reserve bereithalten. Das ist vollkommen unrealistisch", sagte der GdP-Bundesvorsitzende Oliver Malchow der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Dafür fehlten den Bereitschaftspolizeien die notwendigen Einsatzkräfte.

Er warnt deshalb vor dem Risiko zunehmender Selbstjustiz. "Der Staat ist dafür da, mit Polizei und Justiz seine Bürger zu schützen. Wenn er das in den Augen vieler Bürger aber nicht mehr leisten kann, besteht die Gefahr, dass die Bürger das Recht selbst in die Hand nehmen und auf Bürgerwehren und Selbstjustiz bauen."

Über die sozialen Medien könnten viele Menschen schnell mobilisiert werden. "Aus jeder Dorfschlägerei kann eine Hetzjagd werden."

Nach jahrelangem Stellenabbau steigt die Zahl der Beschäftigten bei der Polizei seit 2008 wieder. Um auf das Niveau von vor 20 Jahren zurückzukommen, müsste der Staat aber noch rund 15.000 weitere Stellen schaffen.

Je nach Bundesland ist die Ausstattung mit Polizisten gemessen an der Einwohnerzahl sehr unterschiedlich. Sachsen lag 2016 auf Rang zehn.

Ermittlungen gegen zehn Teilnehmer

Die Grünen haben nun eine Sondersitzung des Innenausschusses im sächsischen Landtag beantragt. Sie wollen den Einsatz vom Montag aufarbeiten.

"Ich will insbesondere wissen, warum es der Polizei trotz erkennbarer Mobilisierung der rechten Szene über zwei Tage nicht gelungen ist, mit ausreichend Kräften vor Ort zu sein und das Einsatzgeschehen zu bestimmen sowie Straftaten zu ahnden", sagte der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Valentin Lippmann. "Wir haben wie schon in Heidenau 2015 Bilder gesehen, die Zweifel daran wecken, ob in Sachsen jederzeit − auch in schwierigen Situationen − das Gewaltmonopol des Staates durchgesetzt werden kann."

Die gescholtene Polizei teilte am Tag danach mit, sie ermittle gegen zehn Menschen, die den Hitlergruß gezeigt haben sollen. Außerdem hätten Polizisten die Personalien von mehreren Personen aufgenommen. Festnahmen gab es aber keine.

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat die Einsatzkräfte gelobt. Sie hätten "hervorragende Arbeit geleistet". Kein Demonstrant, der sich am Montagabend strafbar gemacht hat, werde der Strafverfolgung entgehen, versprach er. "Der sächsische Staat ist handlungsfähig und er handelt."

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat der sächsischen Polizei für etwaige weitere Einsätze Kräfte der Bundespolizei zur Unterstützung angeboten.

Bundeskanzlerin Angela Merkel lobte diesen Schritt. Auf die Frage, ob die sächsische Polizei die Lage in Chemnitz im Griff habe, antwortete sie: "Die Polizei hat dort natürlich alles unternommen, um die Dinge vernünftig zu Ende zu bringen, noch mehr Gewalt zu verhindern."

Trotz dieser verteidigenden Aussagen müssen sich Polizei und Politik die unangenehme Frage stellen lassen: Warum konnten nach den schlimmen Szenen am Sonntag neue Gewaltausbrüche am Montag nicht gänzlich verhindert werden?

Verwendete Quellen:

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