Ricarda Brandts, Nordrhein-Westfalens ranghöchste Richterin, erhebt im Fall des rechtswidrig abgeschobenen Sami A. schwere Vorwürfe. Sie erklärt, wie es dazu kommen konnte und welche Folgen der Fall hat. Im Interview richtet sie ihren Blick auch auf das Verhalten von Politikern.
Im Fall des rechtswidrig nach Tunesien abgeschobenen Islamisten Sami A. erhebt Ricarda Brandts, Präsidentin des NRW-Oberverwaltungsgerichts, schwere Vorwürfe gegen die Behörden.
Selbst von hochrangigen Politikern sei erheblicher öffentlicher Druck aufgebaut worden, den Gefährder endlich abzuschieben, sagte sie im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur.
Das Gericht hatte am Mittwoch letztinstanzlich entschieden, dass die Behörden Sami A. zurück nach Deutschland holen müssen.
Frau Brandts, wie blicken Sie auf den juristischen und politischen Streit um Sami A. zurück?
Ricarda Brandts: Der Fall des Sami A. wirft Fragen zu Demokratie und Rechtsstaat - insbesondere zu Gewaltenteilung und effektivem Rechtsschutz - auf. Hier wurden offensichtlich die Grenzen des Rechtsstaates ausgetestet.
In der Politik, im Landtag und in der Landesregierung sollten die Verantwortlichen sehr genau analysieren, wie die Ausländerbehörde und möglicherweise das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, kurz Bamf, mit dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen umgegangen sind.
Dem Verwaltungsgericht wurden Informationen bewusst vorenthalten, um eine die Abschiebung des Sami A. möglicherweise störende rechtzeitige Entscheidung des Gerichts über ein Abschiebungsverbot zu verhindern.
Ich möchte mahnen, dass ein solcher Umgang nicht zum Standard wird. Unter den gegebenen Umständen ist dem Gericht in Gelsenkirchen kein Vorwurf zu machen. Ganz im Gegenteil, ich will betonen, dass die Kollegen für ihre Vorgehensweise meine volle Rückendeckung haben.
Steht der Umgang mit dem Fall stellvertretend für ein fehlendes Bewusstsein für die Gewaltenteilung in einer Demokratie?
Da kann ich nur für meine Gerichtsbarkeit sprechen. Wir kontrollieren das Verwaltungshandeln der Behörden, also der Exekutive. Und hier gibt es grundsätzlich eine verantwortungsvolle Zusammenarbeit, um einen effektiven Rechtsschutz gewähren zu können.
Menschliche Fehler kann es immer geben. Eine gezielte Offenbarung nur der "halben Wahrheit" - so hat der zuständige Senat das Verhalten der Behörden im Fall Sami A. eingestuft - ist aber nicht hinzunehmen.
Wir leben in einem soliden Rechtsstaat. Das will ich betonen. Umso mehr müssen wir darauf achten, dass dies auch so bleibt.
Wie konnte es zu dieser Situation kommen?
Im Zuge des Verfahrens um Sami A. hat sich erheblicher öffentlicher Druck aufgebaut, dass der mutmaßliche Gefährder endlich abgeschoben werden sollte. Dies ist nicht nur in den Medien, sondern auch von hochrangigen Politikern gefordert worden.
Diese Forderung hat Erwartungen geschürt. Erwartungen, dass dies zu geschehen habe. Als das Verwaltungsgericht dann entschied, dass es Hindernisse für eine Abschiebung gibt, war dementsprechend das Unverständnis in der Bevölkerung sehr groß.
Muss ein Gericht nicht darüber hinwegsehen?
Natürlich grundsätzlich ja. Aber die Unabhängigkeit der Gerichte ist nicht nur formal einzufordern, in einem stabilen Rechtsstaat wie dem unseren muss sie auch in der Praxis gelebt werden.
Nach der Entscheidung ist in den sozialen Medien und auch per Briefpost ein "Shitstorm" über das Verwaltungsgericht hereingebrochen. Es gab Beleidigungen und Bedrohungen in einem für das Gericht bislang beispiellosen Ausmaß. Das steht einem Rechtsstaat nicht gut zu Gesicht.
Was werfen Sie den Behörden und der Politik vor?
Da wurde eine kurze Zeitlücke genutzt, um abschieben zu können. Nachdem das Bamf nach Rückfrage bei der Ausländerbehörde dem Gericht noch am Morgen des 12. Juli mitgeteilt hatte, ein Abschiebeflug für diesen Tag sei storniert worden und eine Stillhaltezusage werde nicht für erforderlich gehalten, konnte das Gericht nicht ahnen, dass zu dieser Zeit bereits ein neuer Flug für die frühen Morgenstunden des folgenden Tages organisiert worden war.
In seiner Entscheidung hat der zuständige Senat des Oberverwaltungsgerichts am Mittwoch klargestellt, dieses Informationsverhalten sei mit rechtsstaatlichen Grundsätzen und dem Gewaltenteilungsprinzips nicht vereinbar.
Es ist auch wenig hilfreich, wenn von der politischen Seite vorschnell gesagt wird, dass die Behörden wohl alles richtig gemacht hätten, und alles schon seine Ordnung gehabt habe.
Warum ist das nicht hilfreich?
Die Gerichte müssen unabhängig von der Mehrheitsmeinung urteilen. Und jeder sollte sich bewusst machen, dass ein Rechtsstaat sich gerade dadurch bewährt, dass er auch die Rechte von Minderheiten schützt, sogar die Rechte derjenigen, die den Rechtsstaat selbst nicht achten.
Im Fall von Sami A. geht es um ein sensibles Feld bei der Abgrenzung der Sicherheit der Bevölkerung und der Rechte derer, die die Sicherheit gefährden oder gar verletzen.
Der Rechtsstaat muss sich insoweit durchsetzen, dass auch Gefährder, Straftäter und Terroristen einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz und auf Achtung ihrer Menschenwürde haben.
Welche Folgen hat der Fall Sami A.?
Eine gravierende Folge ist die Störung des Vertrauensverhältnisses im Umgang mit den handelnden Behörden. In der Praxis gehen Gerichte und Behörden grundsätzlich mit Respekt vor der Gewaltenteilung vertrauensvoll miteinander um.
Dazu gehört, dass die Behörden auf die Fragen der Gerichte die notwendigen Antworten geben. Regelmäßig sagen sie dabei auch zu, vor einer Entscheidung des Gerichts keine Vollzugsmaßnahmen zu ergreifen. Sie geben eine Stillhaltezusage ab.
Nach der Erfahrung des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen würde ich den Kollegen nun raten, sich auf diese Praxis vorerst nicht mehr in jedem Fall zu verlassen. (ff/dpa)
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