Der italienische Mafiaboss Matteo Messina Denaro war ganze 30 Jahre lang flüchtig. Nur acht Monate nach seiner Verhaftung ist er in der Nacht zu Montag gestorben. Einmal mehr legt sich der Schleier des Schweigens über die weitreichenden Verbindungen zwischen Cosa Nostra und Staat.
Es gilt als ungeschriebenes Gesetz: Ein Mafiaboss steuert seine Geschicke vom Zentrum seines Machtbereichs aus. Und doch staunten die Ermittler nicht schlecht, als sie im Januar Italiens meistgesuchten Mann ausgerechnet in Palermo fanden. 30 Jahre lang suchten sie vergeblich nach dem letzten Strategen für die Blutspur, die die Cosa Nostra Anfang der Neunziger durch Italien zog.
Nun stellte sich heraus: Matteo Messina Denaro lebte nur acht Kilometer vom Haus seiner Mutter entfernt, in seiner Heimatprovinz Trapani. In aller Ruhe ging er mit seinen Geliebten shoppen, kaufte sich teure Uhren und pflegte seine Kontakte zu polizeibekannten Mafiosi. Zuletzt ließ er sich unter falschem Namen in einer Privatklinik behandeln. Ein junger Chirurg machte mit dem Patienten ein Selfie: Man sieht einen gepflegten Mann mittleren Alters in Hemd und Sonnenbrille, der freundlich in die Kamera lacht.
Gebiete und Güter im Wert von sieben Milliarden Euro
Wie war das möglich? Wie konnte er sich in aller Ruhe ein Geschäft aufbauen, während angeblich ganz Italien nach ihm suchte? Allein in den letzten zehn Jahren gehörten dem Mafiaboss der Zeitung "Il fatto quotidiano" zufolge Gebiete und Güter im Wert von sieben Milliarden Euro. Wer hat den Mann geschützt, der in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt war? Steckt der Staat etwa dahinter? Diese Fragen bleiben offen. Nur acht Monate nach seiner Verhaftung ist Messina Denaro am Montag an Darmkrebs gestorben. Ein Geständnis hat er nicht mehr abgelegt, seine Geheimnisse nimmt er mit ins Grab. "Ich werde nicht zum Kronzeugen", sagte er Ermittlern zufolge direkt nach seiner Verhaftung. Dabei blieb es.
Wer war dieser Mann, den man mit dem Spitznamen "u' Siccu" ("der Dünne") rief? 1962 in Castelvetrano geboren, wächst er im Umfeld des Corleone-Clans auf. Sein Vater "Don Ciccio" baut gerade erfolgreich den Drogenhandel zu Ablegern in den USA, in Kanada und Venezuela aus. Als sein Sohn 17 Jahre alt ist, begleitet er ihn zu seinem ersten Mord. "Mit den Morden, die ich begangen habe, kann man einen Friedhof füllen", sagt Messina Denaro später.
Salvatore "Totò" Riina persönlich, der oberste Capo aller Capi, nimmt ihn unter seine Fittiche. Anders als sein Lehrmeister, der immer eine gewisse moralische Etikette wahrte, entwickelt sich Messina Denaro zu einem grausamen Killer, tötet gegen den Kodex sogar Frauen und Kinder. Wie Antonella Bonomo, 23 Jahre alt und im dritten Monat schwanger, deren einziger Fehler es war, die Freundin eines Bosses zu sein, der an der Strategie der Cosa Nostra zweifelt. Oder den zwölfjährigen Giuseppe Di Matteo, dessen Vater nach dem Falcone-Attentat 1993 entscheidet, mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Zwei Jahre lang halten Messina Denaro und die anderen den Jungen gefangen, bis sie ihn kurz vor seinem 15. Geburtstag erwürgen. Die Leiche lösen sie in Säure auf.
System des Schweigens wankte – mit brutalen Folgen
Messina Denaro ist der letzte Drahtzieher in einem dunklen Kapitel der italienischen Geschichte. In den Achtzigerjahren hatten die beiden Staatsanwälte Giovanni Falcone und Paolo Borsellino das System des Schweigens ins Wanken gebracht. In einem riesigen Prozess brachten sie die Machtstrukturen der Mafia ans Licht, die zuvor totgeschwiegen oder kleingeredet worden waren.
Mehr als 470 Männer saßen auf der Anklagebank, Kronzeugen sagten aus, der Prozess wurde zum Teil sogar im Fernsehen übertragen. Das konnte der Cosa Nostra nicht in den Kram passen.
Sie wehrt sich 1992 und 1993 mit einer Reihe von Bombenanschlägen, denen zuallererst Falcone und Borsellino zum Opfer fallen. Insgesamt sterben bei den Attentaten 21 Menschen, zahlreiche weitere werden verletzt: Staatsanwälte, Bürgermeister, Politiker und Journalisten. Einfache Zivilisten, darunter zwei Mädchen und ein Baby. Auch Denkmäler und Kirchen in den Zentren von Rom, Mailand und Florenz werden bewusst beschädigt. Italien ist nun zerrüttet vor Angst, und genau das wollte die Cosa Nostra erreichen.
Von der Massaker-Strategie zum Großinvestor
Als 1993 "Totò" Riina verhaftet wird, gibt er sein Erbe an Matteo Messina Denaro weiter. Der aber ändert seine Strategie: Statt Massaker konzentriert er sich auf Business, investiert das schmutzige Geld in Windparks, Supermarktketten, Touristenresorts, ja sogar Weinsorten, die später prämiert werden. Das zumindest vermuten die Ermittler anhand des millionenschweren Vermögens seiner Strohmänner, die sie teilweise festnehmen konnten. "Was ich noch besitze, sage ich euch doch nicht, ich bin doch nicht dumm", soll der Mafiaboss im Verhör gesagt haben.
Ein Wandel, den Ziehvater Totò Riina nicht so erfreut. 2012 hört man ihm im Gefängnis über die Abkehr von der Massaker-Strategie schimpfen: "Signor Messina ist flüchtig und stellt Lichtmasten her", sagt er in Anspielung auf die Windräder. "Die soll er sich lieber in den Hintern schieben."
Aber nach jeder Polizeiaktion wird der Kreis um Messina Denaro enger. Dass er oft genug entkommt, liegt zum Teil an Fehlern der Behörden. So ermitteln sie einmal gegen seine Schwester, ohne zu wissen, dass sie die Schwester ist. Ein weiteres Mal versucht eine Staatsanwältin den Zugriff auf einen anderen Mafioso abzuwehren, weil sie auf eine Spur zu Messina Denaro gestoßen ist. Die Behörden aber lehnen ihre Bitte ab: Die Spur versandet. Einmal verschwindet Ermittlungsmaterial von einem Laptop, mehrfach werden Ermittler von dem Fall abgezogen – ohne ersichtlichen Grund.
Alles nur ein seltsamer Zufall? Mit dem Tod von Matteo Messina Denaro verpufft vor allem die Hoffnung auf diese Antwort. Am Montag meldete sich Roberto Saviano zu Wort. "Matteo Messina Denaro hat vielleicht nicht mehr gesprochen. Aber sein Leben und seine Verbrechen erzählen von engen Kontakten zwischen der Cosa Nostra und der Politik", sagte der Journalist, der seit vielen Jahren wegen Morddrohungen der Mafia im Untergrund lebt, in einem Video des "Corriere della Sera". "Die Mafia ist kein Anti-Staat. Die Mafia ist Teil des Staates, sie ist mit dem Staat verbunden."
Auch Berlusconis mutmaßliche Mafia-Verbindungen nun begraben
Wenn das stimmt, dann bedeutet das auch: Mit dem Tod von Matteo Messina Denaro ist die Cosa Nostra keineswegs geschwächt. Die Verflechtungen mit Politik und Verwaltung bleiben erhalten: Die Mafia kontrolliert über ihre Geldflüsse die Bereiche des alltäglichen Lebens. Wie stark dabei die Macht des Schweigens wiegt, zeigt das Beispiel von Silvio Berlusconi. Der Unternehmer gründete seine Partei "Forza Italia" in dem Jahr, als Matteo Messina Denaro das Erbe von Totò Riina übernahm. Mehrere Ex-Mafiosi konnten bezeugen, dass sich der ehemalige Ministerpräsident damals auch im Umfeld des Mafiabosses aufhielt. Den Ermittlern ist es nie gelungen, Berlusconis Verbindungen zur Mafia nachzuweisen. Er selbst hat sie geleugnet, bis er im Juni verstarb. Auch diese Spur nimmt Matteo Messina Denaro mit ins Grab.
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