Harry Wörz hat das Unvorstellbare erlebt: Seine Ehefrau wird beinahe ermordet und Wörz gilt als Hauptverdächtiger. Er wird zu elf Jahren Gefängnis verurteilt, obwohl viele Indizien dagegen sprechen und weitere Verdächtige vorhanden sind. 17 Jahre nach der Tat ist Harry Wörz nicht mehr der Mann, der er einmal war.

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Es ist einer der größten Justizskandale in der deutschen Geschichte: Viereinhalb Jahre verbringt der heute 47-jährige Harry Wörz unschuldig hinter Gittern. Insgesamt 13 Jahre muss der Bauzeichner aus der Gegend um Pforzheim (Baden-Württemberg) um die Anerkennung seiner Integrität kämpfen. Man wirft ihm vor, am 29. April 1997 seine von ihm getrennt lebende Ehefrau - eine Polizistin - mit einem Schal stranguliert zu haben. Solange, bis sie fast hirntot ist.

Erst im Frühjahr 2009 spricht ein Richter des Landgerichts Mannheim Wörz von jeglicher Schuld frei. Rechtskräftig wird dies durch ein Urteil des Bundesgerichtshofs Karlsruhe im Dezember 2010. Seit zweieinhalb Jahren ist der ehemalige Angeklagte auf freiem Fuß - und kämpft bis heute um Schadensersatz. Und versucht, wieder zu einem geregelten Tagesablauf zurückzukehren.

Mehr als drei Jahre danach zeigt die ARD den Spielfilm "Unter Anklage: Der Fall Harry Wörz". Die Produktion erzählt von einseitigen Ermittlungen, die von vornherein andere als Täter ausschlossen, von verwechselten Akten und dem Verschwinden von Beweismitteln: Das alles prägte den Leidensweg des Harry Wörz.

Wörz war der passende Täter, dank verschwundener Beweise

Aber warum die Hatz auf den Mann, der gleich am Morgen nach der Tat von einem Riesenaufgebot von Polizisten, Hunden und gezückten Waffen zu Boden gestreckt wurde? Vielleicht war es Wörz' größter Fehler, den falschen Beruf erlernt zu haben. Sowohl der Vater von Wörz' Frau als auch deren damaliger Geliebter hatten zunächst Verdacht erregt. Doch beide arbeiteten bei der Polizei. Die Frau des Geliebten gab den beiden Männern darüber hinaus ein Alibi. Ernsthafte Ermittlungen gegen sie wurden bereits am ersten Tag fallen gelassen.

Wenn man Harry Wörz glauben möchte, ist er Opfer einer Verschwörung geworden. Verbittert sagt der heute arbeitslose Mann: "Für mich ist das Pack, richtiges Pack. Es macht einen traurig." Zwar ist Wörz neu verheiratet und Vater einer kleinen Tochter, Kopf und Herz bekommt er dennoch nicht frei von den Schrecken der Vergangenheit.

Man kann es Wörz nicht verdenken - zumal auch der Vorsitzende Richter des Bundesgerichtshofes, der den Freispruch endgültig rechtskräftig machte, heftige Kritik an den Ermittlungen der Polizei übte. Die Staatsanwaltschaft wehrt sich, man habe nach dem Freispruch mehrere Menschen aus dem Umfeld des Opfers überprüft. Dies gelte auch für den Liebhaber des Opfers, einen heute 53 Jahre alten Pforzheimer Polizisten. Den hält die Kammer laut eigener Aussage "für den wahrscheinlichen Täter". Doch "im Ergebnis konnte gegen keine Person ein hinreichender Tatverdacht begründet werden", sagte ein Sprecher. Die Tatsache, dass der Fall bei Wiederaufnahme der Untersuchungen fast 16 Jahre zurücklag, erschwere die Sache, heißt es von offizieller Seite.

Wörz, so stellte es der Richter schon beim zweiten Freispruch 2009 vor dem Mannheimer Landgericht fest, hätte niemals verurteilt werden dürfen. Unfassbare Ermittlungs- und Rechtsfehler hatten dazu geführt: Jahrelang hatte die Lebensversicherung seiner damaligen Frau als Motiv gegolten. Dem Staatsanwalt war nicht aufgefallen, dass Wörz gar nicht bezugsberechtigt war. "Das schreiben Sie mal!", hatte Wörz damals gesagt. "Und, dass die Polizei Asservate hat verschwinden lassen."

Eine Marlboro-Schachtel und Haarproben - angeblich Beweise dafür, dass er in der Nacht am Tatort gewesen war: vom Erdboden verschluckt. Auch ein Teil der Ermittlungsakte mit einer entlastenden Zeugenaussage sei verschwunden: Sie war entscheidend, sie sprach für Wörz und gegen den Geliebten seiner Frau. Aber bei der Staatsanwaltschaft wurden Unterlagen vertauscht; die Aussage gelangte gar nicht erst in die Gerichtsakten.

Erschreckend findet Wörz auch, dass der Täter bis heute frei herumläuft. Die Staatsanwaltschaft schloss 2013 die Akten, trotz massiver Ungereimtheiten bei den Ermittlungen. "Das ist ein Unding. Das glaubt einem keiner."

Leben in Freiheit. Oder?

Nach dem endgültigen Freispruch sprang Wörz nicht in die Luft. Er riss die Arme nicht hoch. Sondern er verhielt sich ganz still, in sich gekehrt. "Ich muss mir das alles erst durch den Kopf gehen lassen. Ich kann im Moment nichts dazu sagen", sagte er nach dem Urteil.

Wörz erklärte, das Verfahren habe sein Leben zerstört. "Es gab drei Opfer: Meine Exfrau, mich und meinen Sohn, den sie mir weggenommen haben." Wörz` Exfrau wohnt in einem Pflegeheim. Sie kann nicht mehr gehen, weder sprechen noch Sprache verstehen. Mit einer Besserung ihrer Situation sei nicht mehr zu rechnen, sagen die Ärzte. Der gemeinsame Sohn wuchs bei den Schwiegereltern auf, distanziert sich vom eigenen Vater.

Bis zum heutigen Tag fühlt sich Wörz um sein wahres Leben und seine Lebensfreude betrogen. Er könne sich noch immer schwer in die Gesellschaft eingliedern. Immer wenn er einen Polizisten sehe, steige Wut in ihm auf. Die Uniformierten, sagt Wörz, hätten sich im Gericht abgeklatscht, als das Urteil gefallen sei. Auch von staatlicher Seite "hat es eine Entschuldigung bis heute nicht gegeben".

Wörz ist körperlich frei, seine Gedanken haben sich jedoch nie von den belastenden Jahren gelöst. Von posttraumatischen Belastungsstörungen und Burnout geplagt, begab er sich damals in Therapie. Bis heute ist er arbeitsunfähig.

Noch immer hat Wörz vom Staat keine vollständige finanzielle Entschädigung erhalten. Dem 47-Jährigen sind andere Dinge sowieso wichtiger: "Ich versuch' mir zu sagen: Schließ das Kapitel. Auch für meine Frau und meine Tochter." Aber wie, solange sie den wahren Täter nicht haben? Das lässt Harry Wörz keine Ruhe. "Es ist, als würde ich versuchen vorwärtszuschauen und dabei verkehrt herum stehen."

Mit einem Themenabend hat sich nun der Südwestrundfunk (SWR) der Causa angenommen: Unter dem Titel "Unter Anklage: Der Fall Harry Wörz" zeigt die ARD am 29. Januar (20.15 Uhr) einen erschütternden Spielfilm des Regisseurs Till Endemann, der auch Co-Autor war. Anschließend wird bei "Anne Will" über Justizirrtümer diskutiert.
Mit Hilfe von dpa-Material / Autorin: Ulrike Cordes verfasst.
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