Gut zweieinhalb Wochen nach dem verheerenden Flugzeugabsturz der Germanwings-Maschine in Frankreich forderte der Bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) in einem Interview mit dem "Focus" ein Berufsverbot als letzte Konsequenz bei depressiven Piloten, Bus- oder Taxifahrern. Unsere Autorin hat darüber mit einer Expertin gesprochen. Christine Kühner ist Professorin für Psychologie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim.

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Frau Kühner, nicht nur der bayerische Innenminister Joachim Herrmann hält ein Berufsverbot für Piloten mit Depression für vertretbar, auch SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach sieht dafür "in bestimmten Umständen" eine Notwendigkeit. Was sagen Sie als Expertin zu solchen Forderungen?

Christine Kühner: Ich habe mich über diese Formulierung sehr geärgert. Wenn das tatsächlich so gesagt worden ist, halte ich das für sehr pauschalisierend. Das ist so undifferenziert, da halte ich überhaupt nichts davon. Ein generelles Berufsverbot für betroffene Piloten greift viel zu weit. Solche Forderungen pauschal zu formulieren, stigmatisiert in unzulässiger Weise betroffene Menschen mit Depression.

Weshalb nicht?

Zum einen, weil Depressionen sehr häufig vorliegen. 16 bis 20 Prozent der Bevölkerung haben mindestens einmal in ihrem Leben eine klinisch relevante Depression. Das ist sehr viel. Solche Menschen würde man mit einem solchen Berufsverbot stigmatisieren. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würden solche Menschen sich dann noch weiter zurückziehen, anstatt therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das wäre fatal. Denn man muss immer ganz genau den Einzelfall prüfen: Depressionen haben ein sehr heterogenes Krankheitsbild, das man nicht einfach pauschalisieren kann.

Zum anderen, weil die Tat des wohl absichtlich herbeigeführten Absturzes nicht typisch für depressive Menschen ist. Wenn man es als einen erweiterten Suizid bezeichnen kann, dann ist es ein völlig untypischer Fall.

Sie fürchten also, ein solches Verbot träfe die Falschen?

Ich halte es schlicht für völlig danebengegriffen. Denn auch, wenn Menschen depressiv sind, können sie durchaus verantwortungsvolle Arbeit übernehmen. Zudem wundert es mich, dass solche Forderungen überhaupt gestellt werden. Denn die derzeitige Rechtslage gibt dazu bereits Möglichkeiten, im Einzelfall aktiv zu werden.

Welche Möglichkeiten hat ein Arzt denn, einen solchen Verdacht weiterzugeben, ohne sein Berufsgeheimnis zu verletzen?

Sollte ein Arzt Hinweise darauf bekommen, dass ein Patient eine Gefahr für die Sicherheit, beispielsweise des Flugverkehrs, darstellt und der Betreffende, nachdem er ihn darüber aufgeklärt hat, nicht die Absicht hat, auf das Fliegen zu verzichten, hat der Arzt die Möglichkeit eine Rechtsgüterabwägung vorzunehmen. Er kann dann das Rechtsgut "Sicherheit im Flugverkehr" über das Rechtsgut "Schweigepflicht" stellen und die zuständigen Ämter oder Behörden verständigen. Denn sobald eine Gefahr für andere Menschen besteht, gibt es die Möglichkeit, teilweise sogar die Pflicht, die ärztliche Schweigepflicht zu brechen. Dafür reichen die bestehenden Gesetze völlig aus.

Inwiefern kann ein Arzt bei einem Berufstauglichkeitstest überhaupt eine Depression feststellen? Kan man dem Arzt nicht auch vorspielen, dass man sich gut fühlt?

Das ist richtig, wenn jemand nicht darüber reden will, wird es schwierig, eine Depression festzustellen. Sie kann auch überspielt werden. In der Regel muss sich der Patient schon öffnen, um eine solche Krankheit diagnostizieren zu können. Wenn jemand allerdings akut schwer depressiv ist, würde man das als geschulter Psychologe oder Arzt aber schon erkennen.

Besteht denn ein Zusammenhang zwischen Suizid und Depressionen?

Es ist schon so, dass Suizidalität ein Symptom von Depression sein kann. Aber nicht jeder der suizidal ist, ist auch depressiv und umgekehrt. Es gibt auch andere psychische Krankheiten, bei denen die Gefahr dazu erhöht ist. Zum Beispiel bei Suchterkrankungen oder bei psychotischen Erkrankungen wie Schizophrenie, oder bei Menschen mit bestimmten Persönlichkeitsstörungen.

Wäre die Katastrophe in den französischen Alpen mit einer rechtzeitigen Diagnose einer Depression denn zu verhindern gewesen?

Das ist wiederum ein Einzelfall. Wenn dieser Pilot das Flugzeug tatsächlich in suizidaler Absicht zum Absturz gebracht hat, dann wäre dies höchstens der vierte oder fünfte Fall in der gesamten Geschichte der Luftfahrt. Tatsache ist, dass so etwas niemals mit 100-prozentiger Sicherheit prognostiziert werden kann.

Gibt es denn Anhaltspunkte, die darauf schließen lassen können, woran Andreas Lubitz tatsächlich gelitten hat?

Ich kann keine Ferndiagnose stellen, da möchte ich mich zurückhalten. Es ist viel zu wenig bekannt darüber, woran er gelitten hat und welche Diagnosen früher einmal gestellt worden sind. Dieser Fall wird möglicherweise nie völlig aufzuklären sein. Was man sagen kann, ist, dass bei einer suizidalen Absicht mit hoher Wahrscheinlichkeit eine psychische Krankheit vorgelegen hat. Aber noch einmal: Diese Tat ist so untypisch, dass man daraus keine Prognose für andere Menschen ableiten kann. Im erweiterten Suizid versteht man zunächst mal, wenn nahestehende Personen mit in den Tod genommen werden. Dass jemand so viele Menschen mit in den Tod nimmt, passt nicht zu diesem Krankheitsbild.

Gibt es überhaupt eine psychologische Erklärung für Lubitz' Verhalten?

Was da vorgefallen ist, ist eine so extreme Einzelsache, dass man dafür kein einfaches psychologisches Erklärungsmodell heranziehen kann. Man muss bei solchen Fällen immer berücksichtigen, was an sonstigen Problemen und belastenden Umständen mit eine Rolle gespielt haben könnte. Ich verstehe, dass die Öffentlichkeit ein Bedürfnis nach Erklärung hat. Aber es wird sicherlich niemals eine exakte Prognose möglich sein, dass mit bestimmten Lebensumständen oder psychischen Problemkonstellationen eine solche Tat möglich oder wahrscheinlich ist.

Angenommen, Lubitz litt zum Tatzeitpunkt tatsächlich an einer Depression. Wie hätte man ihm helfen können?

Depressionen können sehr gut psychotherapeutisch oder medikamentös behandelt werden. Voraussetzung ist, dass die Betroffenen tatsächlich in Behandlung kommen. Hier ist die Versorgungslage, vor allem für psychotherapeutische Behandlungen, noch unzureichend, insbesondere wegen langer Wartezeiten. Die Prognosen sind bei qualifizierter Behandlung dann aber recht gut, auch das Risiko für Rückfälle kann dadurch deutlich gesenkt werden.

Christine Kühner ist Professorin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, promoviert hat sie in Heidelberg. Kühner ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Am ZI arbeitet sie als Leiterin der Arbeitsgruppe Verlaufs- und Interventionsforschung in der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie. Schwerpunktmäßig erforscht sie Depressionen und Suizidalität.
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