• Vorschriften helfen Menschen, Erwartungsstrukturen festzulegen, an denen sie ihr Verhalten orientieren können.
  • Viele halten sich freiwillig an die Maßnahmen, das ist auf den Nachahmungseffekt zurückzuführen.
  • Existentiellen Ängste und Verunsicherung können dazu führen, dass sich Menschen gegen Vorschriften auflehnen.
Ein Interview

Die Corona-Infektionszahlen in Deutschland sind hoch, die Intensivstationen in einigen Region überlastet. Die Menschen sind dazu angehalten, ihre Kontakte zu reduzieren, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen.

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Dennoch finden weiterhin Großveranstaltungen wie Fußballspiele statt, beispielsweise das Spiel Köln gegen Mönchengladbach am letzten Novemberwochenende. 50.000 Menschen waren im Stadion, Maskenpflicht und Abstandsregeln wurden vielfach nicht eingehalten. Die Kritik war groß, die Forderungen nach reduzierter Zuschauerzahl oder sogar Geisterspielen im Fußball wurden lauter. Nun hat der Bund beschlossen die Besucherzahl bei Sport-, Kultur- und ähnlichen Großveranstaltungen zu begrenzen, in besonders betroffenen Regionen sollen auch Geisterspiele stattfinden.

Warum Regeln nötig sind und warum sich manche Menschen daran halten und andere die Regeln immer wieder brechen, darüber haben wir mit dem Soziologen Joost van Loon von der Universität Eichstätt-Ingolstadt gesprochen.

Herr van Loon, wie viel Eigenverantwortung hinsichtlich verantwortungsbewusstem Verhalten kann man einzelnen Menschen in der aktuellen Krisensituation zumuten beziehungsweise von ihnen erwarten?

Joost van Loon: Die meisten Menschen denken von sich selbst, dass sie fast immer verantwortungsbewusst handeln, auch wenn das nicht so ist. Unsere Erfahrung zum Verhalten von anderen zeigt aber oft ein anderes Bild, nämlich, dass sich viele Menschen häufig nicht verantwortungsbewusst verhalten. Hier kommt es zu einer Situation, in der sich die Eigenwahrnehmung und die Fremdwahrnehmung stark voneinander unterscheiden. Erklären Psychologen dieses Phänomen, dann betrachten sie es meist als etwas, das sich innerhalb einzelner Individuen abspielt. Da Menschen in ihren Charaktereigenschaften doch sehr verschieden sind, werden diese Differenzen häufig als persönliche, moralische Entscheidungen des freien Willens beurteilt. Als Soziologe würde ich beide Aspekte aber nicht innerhalb von Individuen, sondern eher als zwischenmenschliche Interaktionen verorten.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Die Corona-Strategie in Schweden: Zu Beginn der Pandemie hat sich die schwedische Regierung dafür entschieden, auf die Eigenverantwortung jedes Einzelnen zu vertrauen und hat darauf gesetzt, dass sich jeder verantwortungsbewusst verhält. Es gab keinen Lockdown, nicht so starke Alltags-Einschränkungen und man ging davon aus, dass die Pandemie auf diese Weise besser zu bewältigen sei als mit strengen Maßnahmen. Das hat sich – im Vergleich zu den anderen skandinavischen Ländern – überhaupt nicht bewährt. Das bedeutet aber nicht gleich, dass man eine Pandemie nur mit Vorschriften bekämpfen kann, sondern nur, dass wir die Erwartungen über das systematische Umsetzen von Eigenverantwortung in verantwortungsbewusstes Handeln auf ein realistisches Niveau herunterstufen sollten. Man sollte Menschen auf keinen Fall ihre Eigenverantwortung absprechen, sondern nur mit klaren Erwartungsstrukturen eine Hilfestellung für verantwortungsbewusstes Handeln leisten und die Menschen so unterstützen, fördern, und wenn nötig auch sanktionieren. Denn diese Verhaltensmuster sind weder tief verankerte kognitive, emotionale oder instinktive Strukturen, noch oberflächliche, rein persönliche oder moralische Entscheidungen.

Kann man davon ausgehen, dass sich die Bevölkerung freiwillig an Maskenpflicht, Abstandsgebote etc. hält?

Die meisten tun das durchaus freiwillig. Das heißt, man muss sie nicht immer wieder darauf hinweisen, einen 3G-Nachweis zu übermitteln, Abstand zu halten oder einen Mundschutz zu tragen. Dieses Verhalten basiert meist auf Nachahmungsprozessen. Die Menschen passen sich an, weil es in den meisten Situationen des Alltags bequemer ist, nicht als Ausnahme oder Regelbrecher wahrgenommen zu werden.

von Loon: "Bei Festivals oder in Stadien kann der Nachahmungseffekt bewirken, dass Menschen bereit sind, Regeln zu brechen."

Aber?

Das Problem ist, dass sich dieser Effekt leider auch bei regelwidrigem Verhalten beobachten lässt, das kann vor allem dann passieren, wenn sich größere Ansammlungen von Menschen bilden, beispielsweise bei Partys, Festivals, in Fußballstadien oder bei Demonstrationen. Häufen sich in diesen Situationen Regelbrüche und erreicht ein eher unerwünschtes Verhalten einen bestimmten Schwellenwert, kann der Nachahmungseffekt genau das Umgekehrte bewirken, nämlich dass andere Menschen auch bereit sind, Regeln zu brechen und eben bei einer Veranstaltung ihren Mundschutz nicht korrekt tragen oder vorgegebene Abstände nicht einhalten. Man sollte sich meiner Meinung nach deshalb vor allem darauf konzentrieren, Situationen zu verhindern, in denen Regel-Abweichungen spontan normalisiert werden könnten, und sich nicht zu sehr darauf versteifen, einzelne Individuen davon zu überzeugen, Vorschriften einzuhalten.

Sind staatliche Vorschriften tatsächlich nötig?

Ja, weil damit eine klare Erwartungsstruktur entsteht. Diese Vorschriften sollten sich aber nicht zu sehr in Details verlieren und einander auf keinen Fall widersprechen. Auch hier sollte man aber bedenken, dass Abweichungen von Vorschriften nicht als "moralisches Versagen" zu deuten sind und auch keine personifizierten Verurteilungen rechtfertigen.

Wieso verhalten sich manche Menschen im Sinne des Gemeinwohls und warum lehnen sich andere dagegen auf?

Ich denke, dass die Mehrheit der Weltbevölkerung – vermutlich sogar als korrupt geltende Politiker oder als unmenschlich bekannte Unternehmensleiter – selbst schon davon ausgeht, dass sie sich im Sinne des Gemeinwohls verhält, auch wenn wir das Verhalten mancher Personen als egoistisch oder sogar immoralisch bezeichnen würden. Aber der Begriff Gemeinwohl wird höchstwahrscheinlich sehr unterschiedlich ausgelegt und was der einzelne unter Gemeinwohl versteht, kann ganz unterschiedlich sein. Auch wenn sich die meisten Menschen momentan so verhalten, wie es Regierungen vorgeben, bedeutet das nicht automatisch, dass auch diejenigen jede Maßnahme gutheißen müssen oder alle Dinge zur Förderung des Gemeinwohls unproblematisch sehen. Dementsprechend kann es immer mal wieder zu Verhaltensänderungen kommen. Meinungen und Verhalten sind einfach nicht so konsistent und widerspruchsfrei und es ist ja auch nicht so, dass sich Menschen immer und in jeder Situation gleich verhalten. Wir können nur hoffen, dass sich gerade im Kontext der momentanen extremen Verunsicherung die bisher meist ausgeübte pragmatische Verhaltensnachahmung nach wie vor durchsetzen kann.

"Sie sehen sich als Kämpfer gegen Lügen und Verschwörungen"

Wie lässt sich erklären, dass manche Menschen die Corona-Vorschriften bis zum Äußersten ausreizen? Machen sie das bewusst?

Die kleine Gruppe von Menschen, die sich über jede Corona-Maßnahme hinwegsetzt und dies auch öffentlich kundtut, macht das höchstwahrscheinlich schon bewusst. Sie sieht die bereits angesprochene pragmatische Verhaltensnachahmung des Großteils der Bevölkerung möglicherweise als ein Zeichen von Manipulation durch Regierungen und Eliten. Sie sehen sich selbst als Kämpfer gegen Lügen und Verschwörungen und haben sogar ein messianisches Selbstbild, das betrifft aber tatsächlich nur einen kleinen Teil.

Und der andere Teil?

Die größere Gruppe des ideologisch-motivierten Widerstands gegen Vorschriften und Maßnahmen macht das eher aufgrund von individuellen, existentiellen Ängsten. Diese Menschen fühlen sich verunsichert und dafür gibt es auch Gründe, die sich objektiv bewerten lassen. Da kann man nur noch schwer zwischen bewusstem und unbewusstem Handeln unterscheiden, weil diese Ängste eher affektiv, interaktiv und intersubjektiv agieren, das heißt zwischen Menschen. Wenn sich die Ansichten dieser Menschen beispielsweise durch Falschinformationen in den sozialen Medien immer mehr verfestigen, wird die Ablehnung von Vorschriften und Maßnahmen bei ihnen zur Selbstverständlichkeit und irgendwann zu ihrer Überlebensstrategie.

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Über den Experten: Prof. Dr. Joost van Loon ist Lehrstuhlinhaber für Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorien an der Universität Eichstätt-Ingolstadt. Er beschäftigt sich unter anderem mit Risikoforschung und untersucht hier vor allem die Themengebiete der öffentlichen Gesundheit und die Kommunikation im Gesundheitsschutz.

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