Eine junge italienische Ärztin aus Mailand arbeitet bis an den Rand der Erschöpfung. Dann muss sie plötzlich selbst in häusliche Quarantäne, getrennt von ihrer Familie, Freunden und Kollegen. Was sie erlebt, was sie fühlt und was sie ärgert - eine sehr persönliche Geschichte in Zeiten der Coronakrise.
"Ich habe Angst, jemanden zu infizieren, der ernsthaft krank werden könnte. Deshalb möchte ich niemanden sehen, nicht einmal meine Kinder oder meinen Mann oder meine Eltern, bis dieser Albtraum vorbei ist. Es war einfacher, als ich noch gearbeitet habe, weil ich dort so viel zu tun hatte, dass ich nicht einmal über meine Situation nachdenken konnte und weder die Zeit noch die Möglichkeit hatte, zusammenzubrechen. Allein zu Hause kann ich mich zwar ausruhen, aber der Zusammenbruch lauert immer."
Stefania F. ist 36 Jahre alt, verheiratet, Mutter von zweijährigen Zwillingen. Doch aktuell ist sie vor allem: Ärztin in Mailand, Norditalien, Epizentrum der Coronavirus-Katastrophe – und vermutlich selbst an COVID-19 erkrankt und deshalb in häuslicher Quarantäne.
Normalerweise arbeitet F. in Teilzeit nachmittags in einer der vier Mailänder Kliniken, die zur Fondazione Don Gnocchi gehören und in der sie vor allem Fälle mit kognitiver Störung behandelt. Auch dort, schon vor Corona, muss die Medizinerin ein anstrengendes Programm stemmen, mit vielen Patienten und noch mehr Visiten.
Oft kann sie nicht einmal auf die Toilette gehen oder zwischendurch mal etwas trinken. Am Ende des Tages erinnert sie sich nicht mehr an die Gesichter derer, die sie untersucht hat. Trotz der Anstrengung macht F. ihren Job gerne und schafft es, sich so zu organisieren, dass sie auch noch Zeit für ihre Familie hat.
Coronavirus in Italien führt zu einschneidenden Veränderungen
Aufgrund der Corona-Notlage ändert sich - wie für so viele Italiener - auch das Leben von Stefania F. Ihre Station wird geschlossen, die Chirurgin und Fachärztin für Geriatrie zwangsversetzt in die Abteilung für Innere Medizin. Dort muss sie seit Anfang März in Vollzeit arbeiten, ob sie will oder nicht.
Um 8 Uhr morgens beginnt ihr Arbeitstag und endet erst, wenn alle Patienten versorgt sind, zehn bis zwölf Stunden später. F. und ihre drei Kollegen betreuen jeweils etwa zehn Patienten, mit verschiedenen inneren Diagnosen, Lungenentzündung, Nierenversagen, akuter Anämie oder Ähnlichem.
Am Morgen des 13. März verabschiedet sich Stefania F. wie gewöhnlich von ihrem Mann und ihren Zwillingen. Was sie nicht weiß: Dass sie an diesem Tag - und auch in den folgenden Wochen und vermutlich Monaten - nicht mehr nach Hause zu ihren Lieben kommen wird.
Im Krankenhaus angekommen, merkt sie, dass etwas nicht stimmt. Der Zustand einiger ihrer Patienten mit Lungenentzündung verschlechtert sich zusehends. Die Antibiotika-Therapien schlagen nicht an, trotz Beatmung und trotz optimierter medikamentöser Behandlung. Dabei sind sie alle Anfang März noch negativ auf das Coronavirus getestet worden.
Doch der Verdacht, dass die Tests entweder falsch-negativ oder zu früh durchgeführt worden sind, erhärtet sich. In Absprache mit ihren Kollegen entscheidet F., zwar weiterzuarbeiten, sich selbst aber vorsorglich in häusliche Quarantäne zu begeben. Das Risiko, das Virus nach Hause zur Familie zu tragen, ist zu groß. Sie benachrichtigt kurz ihren Mann telefonisch und lässt diesen für sie in aller Eile eine Einzimmerwohnung anmieten. Nach zwölf Stunden Arbeit schleicht F. in ihr neues, vorübergehendes Zuhause, das sie selbst nicht kennt, allein, praktisch ohne irgendetwas.
"Dies ist der zweite Tag meiner Quarantäne. Ich hatte nicht einmal ein Buch hier in meinem neuen Zuhause. Heute Morgen kam mein Mann, um mir zwei Romane vor die Wohnungstür zu legen. Wir haben uns nicht gesehen. Er ließ sie in einer kleinen Tasche vor der Tür, klopfte an, begrüßte mich von draußen und ging. Die Stille drückt aufs Gemüt. Ich würde gerne über die Zukunft nachdenken, Pläne machen, vielleicht für die Sommerferien. Aber im Moment kann ich nicht. Ich denke nur daran, den Tag irgendwie zu überstehen, ohne zusammenzubrechen."
In F.s Klinik herrschen in der Coronakrise verschärfte Schutzmaßnahmen. Am Eingang gibt es eine Triage-Station, an der alle Mitarbeiter auf Fieber und andere Symptome untersucht werden. Jeder muss täglich eine Selbstauskunft zu seinem Gesundheitszustand ausfüllen. Nur wer in gutem Zustand und fieberfrei ist, darf zur Arbeit antreten.
Je nach Abteilung gibt es unterschiedliche Schutzstufen. In der Abteilung mit den COVID-19-Fällen muss das Personal Schutzanzug, Handschuhe, Maske mit Filter, Schutzbrille und eine Kappe tragen. Am Ende der Schicht haben die Ärzte und Pfleger Abdrücke im Gesicht. Persönliche Schutzausrüstung sei derzeit wertvoller als Blut, sagt F.
Kompletter Verlust des Geschmacks- und Geruchssinns
Da F. Kontakt zu anderen Ärzten, infizierten Patienten, Pflegern und sonstigem Krankenhauspersonal hatte, lässt sie am 17. März erstmals einen Abstrich machen. Der Test fällt negativ aus, F. arbeitet weiter, jeden Tag, von morgens bis spät abends, bis zum Rand der Erschöpfung. Sie muss, denn die Ärzte werden abwechselnd selbst krank. Anstatt zu viert insgesamt 40 Patienten zu betreuen, sind häufig nur drei Ärzte oder manchmal auch nur zwei im Einsatz.
Als sie am Samstag, dem 21. März, abends ihr vorübergehendes Zuhause betritt, plagen sie Kopfschmerzen und allgemeines Unwohlsein, das Fieberthermometer zeigt 37,5 Grad an. Außerdem hat die junge Mutter ihren Geruchs- und Geschmackssinn komplett verloren.
Am Montag, nach einem Tag Pause, schreibt ihr Arzt sie krank, zunächst für eine Woche, aber mit der Gewissheit auf Verlängerung aufgrund ihrer eindeutigen Symptome. Ihre Chefs bestellen sie am Nachmittag nochmal ein, um einen weiteren Test zu machen. Danach bleibt ihr vorerst nur das Warten. Und die Wut. Und der Ärger. Und die Enttäuschung.
"Der Appell der Ärzte an die Politik hätte sofort gehört werden müssen. Vielleicht hätten wir die Zahlen an Infizierten und Toten vermeiden können, wenn wir wirklich alles auf einmal dicht gemacht hätten und nicht nur Stück für Stück. Wir wussten, dass es so kommen würde. Und wenn das System jetzt explodiert, ist das zumindest teilweise auch das Ergebnis jahrelanger Einsparungen und Kürzungen der Politik im nationalen Gesundheitssystem."
Bereits Anfang Februar waren die Nachrichten aus China auch in Italien im Umlauf, tatsächlich hatte China bereits am 31. Dezember 2019 den Ausbruch der Epidemie in Wuhan erklärt. Doch niemand achtete besonders darauf, die Nachrichten wurden auf die leichte Schulter genommen. F. war sich der Ernsthaftigkeit der Situation schlagartig am 21. Februar bewusst, als der erste COVID-19-Fall in der Lombardei diagnostiziert wurde. Sie und ihre Kollegen wissen, wie und wie schnell sich Viren verbreiten können. Als die Medizinerin an diesem 21. Februar abends nach Hause kommt, fängt sie an zu weinen - die ersten, aber längst nicht die letzten Tränen wegen des Coronavirus.
"Ich bin auch verärgert. Jetzt gibt es all diese wohlmeinenden Aktionen gegenüber Ärzten und Krankenschwestern. Menschen, die auf den Balkonen erscheinen, um zu applaudieren. Das verstehe ich einerseits, andererseits aber stört es mich, denn wir sind die Gleichen geblieben: nämlich diejenigen, die noch bis gestern beleidigt wurden, weil wir angeblich zu spät Untersuchungen gemacht oder wer weiß was getan haben, anstatt zu arbeiten. Wir sind immer noch diejenigen, denen oft weniger geglaubt wird als Google. Wir sind diejenigen, die angeblich nicht zuhören oder keine Zeit haben, zuzuhören, weil sie Gott weiß was zu tun haben. Wir wollen keinen Applaus, uns reicht wahrer Respekt, wenn die ganze Situation vorbei ist."
Die Stimmung unter den italienischen Ärzten in den Kliniken ist bedrückend, es gibt kaum Zeit zum Durchatmen oder Innehalten. Früher traf man sich in den Pausen in der Bar oder der Kantine des Krankenhauses. Jetzt kaut jeder allein auf seinem Panino herum.
Höhepunkt des Tages sind die seltenen und kurzen Treffen am Kaffeeautomaten – natürlich unter Einhaltung des Sicherheitsabstandes von mindestens zwei Metern. Wer gehört werden möchte, muss schreien: Die Schutzmasken dämmen die Lautstärke und machen Lippenlesen unmöglich. Sogar mal kurz gelacht wird dort – vielleicht aus reiner Verzweiflung, wie F. vermutet.
"Die Enttäuschung hebe ich mir für später auf, wenn wir aus diesem Albtraum herauskommen. Wenn sich nichts geändert hat, wenn es keine Investitionen zur Unterstützung des nationalen Gesundheitssystems gibt, und alle innerhalb weniger Wochen alles vergessen haben, werde ich sehr enttäuscht sein und alle Hoffnung verloren haben. Denn wenn wir nicht mal aus einer solchen Katastrophe lernen, ist jede Art von Hoffnung auf die Lernfähigkeit der Menschheit zerstört."
Am Donnerstag bekam F. das Ergebnis ihres zweiten Tests. Es war positiv.
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Stefania F., Fachärztin für Geriatrie in Mailand
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