Ein Corona-Massenausbruch in Göttingen spaltet die Stadt. Auf der einen Seite: Mitglieder verschiedener muslimischer Großfamilien. Auf der anderen Seite: Eltern, Mitbürger und Schulleiter. Während die Wut hochkocht, scheint in den sozialen Netzwerken von rechter Seite aus längst ein Schuldiger gefunden zu sein.
Das Zuckerfest ist für Muslime das wichtigste Fest im Jahr – hier wird der Ramadan beendet und das Fasten gebrochen. Dieses Jahr fiel das Fest auf den 23. Mai – mitten in eine weltweite Pandemie.
In einem Wohnblock in Göttingen feierten vermutlich trotzdem verschiedene Großfamilien das Ereignis zusammen – und das führt jetzt zu Problemen in der niedersächsischen Stadt. Denn die Konsequenz daraus sind über 110 neue Corona-Infektionen sowie hunderte Kontaktpersonen in Quarantäne.
Die Stadt reagierte schnell und entschied: Erneute Schulschließungen wegen Massenausbruch. Auch Kitas sowie alle Sportvereine sind fürs Erste wieder dicht.
Corona-Maßnahmen in Göttingen: Unverständnis für erneute Beschränkungen
Was vonseiten der Stadt die einzige richtige Lösung schien, stieß bei Eltern, Lehrer und Mitbürger auf Unverständnis. Unmut über unsolidarisches Verhalten machte sich breit.
Die Wut war auch Nährboden für Hass und Hetze. Forderungen nach Prüfungen und Sanktionen für die muslimischen Großfamilien waren noch das harmloseste.
Ein Konflikt, der Krisenexperte Christian Scherg nicht verwundert. "Der Konflikt zeigt sehr deutlich, dass das Coronavirus nicht nur eine gefährliche Grippe überträgt, sondern – wenn wir als Gesellschaft nicht aufeinander achtgeben – auch Hass und Hetze."
Angst vor Erkrankung und Verurteilung von ethnischen Gruppen
Plötzlich vermische sich Angst vor einer möglichen Erkrankung mit anderen diffusen Ängsten – zum Beispiel der vor bestimmten ethnischen Gruppen. "Es werden schnell Schuldige gesucht und Vorverurteilungen ausgesprochen und Ereignisse politisch instrumentalisiert – und das alles, bevor überhaupt die Faktenlage geklärt ist." Denn noch ist nicht klar, wie es zu dem Massenausbruch kam.
"Die Gefahr liegt hier in der Instrumentalisierung des Coronavirus für andere tief greifende Strömungen, die unsere Gesellschaft spalten und den Zusammenhalt zerstören", sagt Christian Scherg. Konflikte dieser Art würden Schritt für Schritt die Solidarität destabilisieren und den Weg zu einer gefährlichen Radikalisierung ebnen.
"Akzeptanz geht verloren und mit zunehmender Gefahr wirtschaftlicher Probleme steigt die Gefahr, dass Extremisten und Verschwörungstheoretiker die Verunsicherung der Menschen für sich nutzen. Der gemeinsame Gegner Corona tritt in den Hintergrund – stattdessen werden Ereignisse wie die in Göttingen speziell auf Social Media und unterstützt von russischen Bots für demokratie- und fremdenfeindliche Propaganda missbraucht."
Themenverschiebung als Gefahr
Während die Stadt Göttingen derzeit vor allem versucht, weitere Neu-Infektionen zu verhindern, bemühen sich die Mitglieder der Großfamilien, ihren Ruf zu retten. Von offenen Briefen bis hin zu verzweifelten Stellungnahmen in den sozialen Netzwerken ist alles dabei. Doch statt Verständnis ernten sie vor allem eines: Hasskommentare, Vorverurteilungen und Hetze.
Private Stellungnahmen und Beteuerungen können nicht das Heilmittel sein.
Um den Konflikt zu lösen, ist es wichtig, bei den Fakten zu bleiben – und den Kampf gegen das Coronavirus nach Möglichkeit von allen weltanschaulichen, politischen und religiösen Interessen und Überzeugungen zu befreien. "In diesem Fall bedeutet das, dass zunächst eindeutig verifiziert werden muss, ob ein verbriefter Zusammenhang zwischen den Feierlichkeiten zum Zuckerfest und dem erneuten Ausbruch des Virus besteht", sagt der Krisenexperte.
Denn noch gibt es keine klaren Beweise. Und selbst wenn sich am Ende bestätigen würde, dass die Großfamilien unerlaubterweise zusammen gefeiert haben, ist es laut Christian Scherg wichtig, dass keine Themenverschiebung stattfinde und dieses Ereignis nicht von Extremisten gekapert werde.
Die Schuldigen sind nicht zwingend Muslime
Doch wie kann eine Stadt wie Göttingen bei einem so offen ausgetragenen Konflikt intervenieren? "Die Aufklärung der Ereignisse kann nur im öffentlichen Schulterschluss mit der muslimischen Gemeinde erfolgen. Wertfrei und ohne jede Vorverurteilung."
Man dürfe nicht vergessen: Auch viele andere Veranstaltungen ohne jeden religiösen Hintergrund können zu derartigen Infektionswellen führen oder haben sogar bereits dazu geführt. "Seien es die Demonstrationen gegen Corona-Beschränkungen, Corona-Partys, oder beispielsweise die Demo-Party am Landwehrkanal in Berlin", erinnert der Krisenexperte.
Auch viele nicht-muslimische Mitbürger würden sich oft genug nicht an die Hygiene- und Abstandsregeln halten und damit ein erneutes Ansteigen von Infektionen riskieren. Scherg: "Das ist kein Thema von Nationalität oder Religion. Das ist die wichtige Botschaft, die ankommen muss."
Corona-Pandemie fordert Menschen heraus
Lockdown, ein neues soziales Leben und allerlei Einschränkungen, zudem Verschwörungstheorien: Die Corona-Pandemie fordert die Menschen heraus. Sind kulturelle Konflikte nun eine weitere negative Begleiterscheinung des Virus? Die Antwort lautet vermutlich: Ja.
Doch Krisenexperte Christian Scherg ist sich sicher, dass jeder Einzelne seinen Teil dazu beitragen kann, dass solche Konflikte nicht allzu häufig hochkochen.
"Corona und seine Auswirkungen besiegen wir nur gemeinsam – als Gesellschaft. Das Einhalten der gesetzlichen Bestimmungen und Regeln durch jeden Einzelnen ist eine Grundvoraussetzung für eine Vermeidung derartiger Konflikte. Es ist die Solidarität, das Miteinander, das mehr denn je zählt, damit jeder von uns physisch, psychisch und wirtschaftlich so wenig Schaden wie möglich in dieser Katastrophe nimmt."
Göttingen lässt seine Schulen und Kitas noch eine Woche lang geschlossen. Dann soll der zeitweise verhängte Lockdown wieder aufgehoben werden. Ob der Konflikt bis dahin beiseite gelegt sein wird? Fraglich.
Verwendete Quellen:
- Experte Christian Scherg, Führender Reputationsexperte und Krisenexperte
- HNA: Corona in Göttingen: Bewohner und Stadt wehren sich
- Süddeutsche: Göttingen: Vorerst keine weiteren Corona-Einschränkungen
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