- Die Corona-Pandemie bestimmt nun seit fast einem Jahr unser Leben.
- Diese lange Zeit sehen Psychologen als schwerwiegendes Problem: Psychische Erkrankungen und Rückfälle nehmen zu. Auch würden Maßnahmen weniger ernst genommen.
- Was durch die Krise hilft und wo Betroffene Hilfe bekommen.
Haben Sie sich auch selten so nach dem Frühling gesehnt wie in diesem Jahr? Damit wären Sie nicht allein. Die Krise zieht sich. Besonders hart trifft sie unter anderem Menschen, die wegen der Pandemie um ihre Existenz fürchten müssen, Alleinstehende, die nun noch einsamer sind, Familien, die Homeschooling und Homeoffice unter einen Hut bringen müssen und solche, die bereits psychische Probleme haben.
Allein all diese Gruppierungen bilden zusammen eine gewaltige Masse an Menschen: "Der chronische Stress trifft eine breite Bevölkerungsschicht", bestätigt Ulrike Lüken, Professorin für Psychotherapie an der Berliner Humboldt-Universität. Und sie fügt hinzu: Diese Art Stress sei "ein wichtiger Treiber für neue psychische Störungen oder Rückfälle".
Eine psychische Störung entwickle sich über Monate. Derzeit kämen vermehrt Menschen in die Behandlung, die bereits von einer psychischen Erkrankung genesen waren, und nun von stressbedingten Rückfällen berichteten, sagt Lüken. In den kommenden Monaten rechnet sie aber auch mit mehr Menschen, die zum ersten Mal mit einer psychischen Krise zu tun haben. "Mein Gefühl ist, dass dafür gerade der Nährboden gelegt wird."
Psychotherapeut : "Wir brauchen das Licht am Ende des Tunnels"
Durchhalten, wird immer wieder geraten. Doch wie lange noch? Diese Ungewissheit trotz Impf-Start macht vielen zu schaffen. Wie sich die Pandemie und ihre Folgen auf die psychische Gesundheit auswirke, ist laut der Psychologie-Professorin Louisa Kulke von der Universität in Erlangen nicht abschätzbar. "Internationale Studien weisen aber darauf hin, dass in Krisensituationen psychische Störungen zunehmen", sagt auch sie.
Die lange Dauer der Krise sieht der Berliner Psychotherapeut und Buchautor Wolfgang Krüger als besonders belastend: "Damals dachten wir, dass es bald zu Ende ist, wenn wir uns für eine kurze Zeit einschränken. Jetzt sehen wir, dass es lange dauern wird." Damit könnten viele Menschen nicht umgehen: "Wir sind in Deutschland nicht mehr krisentauglich. Wir brauchen das Licht am Ende des Tunnels." Das bekomme er auch in seiner Praxis zu spüren, in die zurzeit etwa 40 Prozent mehr Patienten als sonst zu dieser Jahreszeit kommen. Eine Erfahrung, die viele seiner Kolleginnen und Kollegen machen, wie eine Umfrage der Krankenkasse Pronova BKK unter rund 150 Psychiatern und Psychotherapeuten zeigt.
- Psychische Beschwerden nahmen demnach vor allem bei Frauen und Familien mit Kindern im vergangenen Jahr zu.
- Betroffen sind laut der Krankenkasse also vor allem Menschen, die dem Stress kaum ausweichen könnten. Rückzugsmöglichkeiten fehlten, dazu kämen finanzielle Ängste und Sorgen um den Arbeitsplatz.
Viele tun sich immer schwerer mit Corona-Maßnahmen
Die Dauer der Krise führe zu einer Ermüdung, analysiert die Diplom-Psychologin und Autorin Ulrike Scheuermann. Das mache sich auch beim Einhalten der Corona-Maßnahmen bemerkbar, meint sie: Weil man so lange durchhalten müsse, werde es für die Menschen generell schwieriger, sich für die Maßnahmen zu motivieren. Das betreffe auch Verschärfungen, deren Neuigkeitswert sich schon komplett abgenutzt habe. Im Frühjahr sei der Wille spürbar gewesen: "'Okay, wir halten das jetzt für eine begrenzte Zeit durch!' Dieses Gefühl ist, glaube ich, inzwischen fast allen komplett abhandengekommen."
Diese Beobachtung macht auch der Psychologe Stephan Grünewald. Die Menschen hätten zudem immer weniger Angst vor einer Erkrankung, meint er und beruft sich dabei auf eine tiefenpsychologische Untersuchung des Rheingold-Instituts. "Bei den Menschen hat sich mittlerweile eine Corona-Routine eingespielt", erläutert Grünewald. Im Frühjahr hätten viele unter dem Eindruck der schrecklichen Bilder aus Bergamo in Italien gestanden. Die damalige Situation sei als "abenteuerliche Ausnahmesituation" erlebt worden, die Ängste heraufbeschworen habe. Heute dagegen sei Corona für viele Teil ihrer Alltagswirklichkeit geworden.
Während im letzten Frühjahr die Zahlen sehr schnell runtergingen und zunehmend das Wetter besser wurde - was wie eine himmlische Belobigung erlebt wurde - wähnen sich die Menschen jetzt in einer Endlos-Dauerschleife, in der die guten Nachrichten wie der Impf-Start sogleich wieder durch die Hiobsbotschaften von Virus-Mutationen überschattet werden", erläutert Grünewald.
Für viele seien die Regeln zudem schwer nachvollziehbar. Das trage ebenfalls dazu bei, dass sich die Menschen derzeit anders verhielten als im ersten Lockdown im Frühjahr. Zunehmend äußerten Bürger aller Altersgruppen außerdem das Gefühl, "dass ihnen das Leben durch die Finger rinnt, sie unwiederbringlich ihre Jugend oder die Freuden des Alters verpassen", gibt Grünewald wieder.
Experten-Tipps gegen das Corona-Tief
Was zu allem hinzukommt: Der Winter ist ohnehin für viele Menschen eine schwierige Zeit. Weil sie sehr wenig Tageslicht bekommen, neigten sehr viele Menschen dazu, depressive Symptome zu entwickeln, erklärt die Psychologin und Autorin Scheuermann. Sie hält vor allem eines jetzt für wichtig:
- Regelmäßige Bewegung an der frischen Luft - und zwar immer zu festen Zeiten: "Aus gesundheitlicher Sicht ist es am besten von morgens bis mittags, um die Körperuhr zu stellen. Dadurch schlafen Sie dann wiederum auch besser."
- Sehr gut wäre eine Stunde Bewegung bei bedecktem Wetter, bei strahlendem Sonnenschein würde eine halbe Stunde reichen. Scheuermann ist überzeugt: Wenn man diese Zeit jeden Morgen oder jeden Vormittag einplant, habe man sehr viel für seine Stimmung und Gesundheit getan.
- "Umso länger es dauert, umso disziplinierter müssen wir sein", erklärt Psychologin Lüken, die die Coronakrise mit einem Marathon vergleicht: "Wir müssen uns unsere Energie gut einteilen."
- Auch denen, die im Homeoffice arbeiten oder in Kurzarbeit sind, rät sie: Behalten Sie unbedingt eine feste Tagesstruktur bei.
- Planen Sie dabei Zeiten für angenehme Beschäftigungen ein, nicht nur die Pflichten.
- Neben Bewegung sind auch soziale Kontakte sehr wichtig für die Psyche: "Wahrgenommene Einsamkeit und Isolation befördern Depressionen", sagt Psychologin Kulke. Davor schütze vor allem Synchronizität: So nennen Fachleute es, wenn man mit anderen Menschen etwas gleichzeitig erlebt und teilt.
- Am stärksten sei dieses Gefühl, wenn Menschen sich persönlich treffen. Ein guter Ersatz seien aber auch Videokonferenzen, um mit Freunden zum Beispiel zusammen zu singen oder zeitgleich einen Film zu schauen.
Wie stark jemanden eine Krise stresst, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Dass es auch auf die Einstellung ankommen kann, legt eine Studie aus Großbritannien nahe. In der im "Journal of Positive Psychology" veröffentlichten Untersuchung kamen die Forscherinnen der Universität Surrey zu dem Ergebnis:
- Es ist hilfreicher, nach vorne zu blicken und das wertzuschätzen, was zurzeit positiv im Leben ist, als der Vergangenheit nachzutrauern.
Online-Programm für Corona-Gestresste
Ein massives Problem in dieser schwierigen Zeit ist nicht zuletzt, dass Psychotherapeuten und Psychiater oft über Monate ausgebucht sind. Zeitnah einen Termin zu bekommen, ist also äußerst schwierig.
Lüken startete mit ihrem Team ein Online-Hilfsprogramm für Corona-Gestresste. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer füllen dafür zunächst einen Fragebogen aus. Seit September nahmen 700 Menschen daran teil. Sie litten am häufigsten unter Schlafstörungen, Ängsten, depressiven Verstimmungen und ständigem Grübeln.
Den Betroffenen hilft auf der entsprechenden Website "Corona Stressfrei" der Berliner Humboldt-Universität in einem ersten Schritt die digitale Beraterin "Aury", die in kurzen Einheiten Verhaltenstipps gibt und Übungen zeigt.
Wer mehr Unterstützung braucht, kann sich danach zu einem sechswöchigen Online-Gruppenprogramm anmelden. Über weitere Angebote informiert die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) auf ihren Internetseiten.
(af - mit Material der dpa)
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