In der Ruhe liegt die Kraft. Das gilt für Angehörige von Alzheimer-Erkrankten ganz besonders. Doch wie bewahrt man sie angesichts der Herausforderungen auf so vielen Ebenen? Beim Alzheimer-Telefon weiß man: Ein Perspektivenwechsel kann Wunder wirken.
Wie herausfordernd sich Kindererziehung gestaltet, ist ein präsentes Thema. Das Internet steckt voller Ratgeber, Blogs und lustiger Memes aus dem bunten Leben von Familien.
Anders ist es hier: Was pflegende Angehörige in ihrem Alltag erleben und meistern, darüber wird weitaus weniger gesprochen. Ein Alltag, der nicht leichter wird mit der Zeit, ganz im Gegenteil.
Was ist Alzheimer?
- Alzheimer ist die häufigste Form von Demenz und nach dem deutschen Neurologen Alois Alzheimer benannt (1864-1915), der sie als erster wissenschaftlich beschrieb. Ursache der Symptome ist ein massives Nervensterben durch Eiweißablagerungen im Gehirn. Meist schreitet die Erkrankung langsam voran. Zu den Symptomen gehören Gedächtnis- und Orientierungsstörungen, Sprachstörungen, Störungen des Denk- und Urteilsvermögens sowie Veränderungen der Persönlichkeit.
Heikle Gratwanderung: Betreuung ohne Bevormundung
Manchmal ist über Menschen mit Demenz zu hören, sie würden im Verlauf der Krankheit immer mehr wie Kinder. Der Umgang ist aber weitaus schwieriger und komplizierter: Sie sind eben keine Kinder, haben bereits ein Leben, häufig auch eine Familie und dazu einen Beruf gemeistert. Sie zu "bevormunden" – wie es die Betroffenen dann oft empfinden – ist der vielleicht heikelste Punkt. Zugleich lässt es sich mit fortschreitender Krankheit nicht vermeiden, Entscheidungen für sie zu treffen.
"Eine sehr schwierige Gratwanderung, die viel Fingerspitzengefühl und Kraft erfordert", beschreibt Laura Mey von der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft, welche Kompetenzen sich Angehörige mit der Zeit aneignen. Die Geduld, allein wenn der Erkrankte zwanzigmal am Tag dieselbe Frage stellt. Die Fassungslosigkeit darüber, mit der Angehörige vor allem in den ersten Phasen der Krankheit zu kämpfen haben. Die nötige Energie, weil immer mehr Aufgaben auf sie abfallen. Die Traurigkeit, weil Alzheimer einen schleichenden Abschied von der geliebten Person bedeutet.
"Man kann eigentlich nur sagen: Es ist Wahnsinn, was Angehörige leisten", bringt Mey es auf den Punkt. "Häufig sind sie selbst schon betagt, wenn sie vor dieser Aufgabe stehen, die immer schwerer wird." Die Soziologin betont, wie wichtig es ist, sich Hilfe zu holen. Ein erster Schritt kann der Anruf beim Alzheimer-Telefon der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft sein. Mey gehört zu den Beraterinnen, die nicht nur Tipps an die Hand geben, welche organisatorischen Maßnahmen einzuleiten sind – beispielsweise Beantragung eines Pflegegrades - sondern auch Empfehlungen für den Umgang mit der erkrankten Person.
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Das A und O im Umgang mit Alzheimer-Erkrankten
Der wohl häufigste und wichtigste Rat: "Versuchen Sie immer, möglichst ruhig und klar zu bleiben in Ihrer inneren Haltung. Nehmen Sie Druck und Stress, wann immer Sie können, aus konkreten Situationen." Zum Beispiel: Ein Termin steht an, die erkrankte Person hat es weder auf dem Schirm, noch scheint sie bereit zu kooperieren. "Völlig verständlich, wenn Sie das stresst. Klassischerweise übertragen wir unsere Unruhe dann auf die Person. Menschen mit einer Demenz haben dafür sehr gute Antennen, werden ebenfalls unruhig, verunsichert, und schließlich ganz und gar ablehnend."
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Was dahintersteckt, wenn Alzheimer-Erkrankte Arztbesuche verweigern
Der Arztbesuch sei das klassische Beispiel, das Angehörige zur Verzweiflung bringen könne: Sie wissen ja, wie wichtig der Termin wäre, doch alle Überzeugungsarbeit führt ins Leere oder zu Konflikten.
Störrisch – so kommt dem Gesunden das Verhalten dann vor. Um zu verstehen, was eigentlich dahintersteckt, rät Mey zu einem Perspektivenwechsel: "Im Großen und Ganzen haben Demenz-Erkrankte die Eigenwahrnehmung, dass sie ihr Leben doch immer gut gestaltet haben und sich daran im Prinzip nicht viel geändert hat. Sie nehmen ihre eigene Vergesslichkeit wenig wahr und empfinden sich nicht als krank. Auch wollen sie nicht hilfsbedürftig erscheinen, es hat also auch viel mit Selbstwertgefühl zu tun", erklärt sie.
Doch dann sei da noch eine verborgene Verunsicherung. Ein Gefühl, das Alzheimer-Erkrankte nicht mehr reflektieren können: "Sie spüren, dass etwas nicht stimmt. Während sie sich nicht als krank empfinden, merken sie doch, dass ihnen Dinge nicht mehr so gelingen oder einfallen wollen. Sie haben die unterschwellige Sorge, genau das bestätigt zu bekommen. Und das ist ja verständlich", sagt die Beraterin.
All das führe bei den Betroffenen dazu, Dinge zu leugnen. Das zu verstehen, sei für Angehörige ein wichtiger Schritt: "Wenn man es schafft, diese Perspektive einzunehmen, sich also in die Person hineinzuversetzen, nimmt das Druck und erleichtert die Situation spürbar."
Wo früher die Vernunft siegte, bleiben ungute Gefühle
Was nämlich empfindet der Alzheimer-Erkrankte bei einem angekündigten Arztbesuch? "Wir müssen uns bewusst machen: Sein Vorstellungsvermögen leidet unter der Demenz: das Planerische, das in die Zukunft gerichtete Denken, das für uns so selbstverständlich ist." Heißt übersetzt: Normalerweise gehen wir aus Vernunftgründen zum Arzt. Es muss eben sein, danach haben wir uns auch wieder hinter uns. Das Ziel ist, dass es uns danach auch wieder besser geht, weil beispielsweise die Medikamente neu eingestellt sind.
Beim Erkrankten finde dieses Rationale nicht mehr statt. All das, was wohl auch viele Gesunde nicht sonderlich mögen an derartigen Terminen, sei noch da: das Unbequeme, das Mühsame, das Nervige, das Verunsichernde und auch das Ungewisse. "Menschen mit Demenz spüren diesen Stress und werden dann ablehnend – und noch mehr, wenn sie sich unter Druck gesetzt fühlen."
Wie Angehörige Druck nehmen können
Doch was hilft? "Das ist das Schwierige, es gibt kein Patentrezept, und an einem Tag kann etwas funktionieren, an einem anderen nicht", fasst Mey zusammen, was Angehörige ständig erleben.
"Viele schaffen es schon mal, den Druck rauszunehmen, wenn wir ihnen sagen: An erster Stelle steht, dass das Vertrauensverhältnis erhalten bleibt. Vermeiden Sie deshalb nach Möglichkeit alles, was die Stimmung verschlechtert", rät sie.
In manchen Familien bewähre sich, dass nicht der Partner, sondern – je nach Verhältnis – eines der Kinder die Rolle übernimmt, zum Beispiel vom Arztbesuch zu überzeugen. Einige Angehörige berichten von Erfolgen, wenn sie so argumentieren: "Es wäre mir wirklich wichtig, dass du dich mal untersuchen lässt. Ich will doch, dass es dir gut geht und möchte auf keinen Fall, dass wir etwas übersehen."
Mey rät, dabei nicht die Gedächtnislücken zu thematisieren, sondern einen allgemeinen Check-up vorzuschlagen. Viele Praxen erklären sich auch bereit, eine schriftliche Einladung als "Erinnerung an die Überprüfung der Medikamentendosis" zu schicken.
Keinesfalls sollten Angehörige ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie mit kleinen "Tricks" arbeiten: Etwa, indem man den Termin gar nicht lang vorher ankündigt: "Heute ist ja dein Arzttermin, hatte ich das gar nicht erwähnt? Das tut mir leid", wäre eine Möglichkeit.
Oder: Man ist schon im Auto unterwegs und verkauft den Termin bei Arzt oder Optiker als spontan. "Nicht, weil man die Person anlügen möchte, sondern weil man ihr Stress ersparen will", stellt Mey klar. In der Regel sei das ein Lernprozess für die Angehörigen: Kreativ zu werden, sich heranzutasten, wie man den Widerstand beim anderen überwinden kann. "Klar ist, wenn ich es auf die normale, rationale Art mache, funktioniert das nicht. Und mit Stress und Druck funktioniert es auch nicht", fasst sie zusammen.
Fingerspitzengefühl gefragt – und enorm viel Flexibilität
Solche Situationen, wo Gespür, Geschick und nicht zuletzt Kreativität gefragt seien, würden mit Verlauf der Krankheit immer häufiger. "Erst sind es vielleicht noch die Arztbesuche, später wird dann schon jede Dusche ein Thema. Hier kann manchmal eine gewisse Strenge – natürlich ohne Gewalt, aber im Sinne der erwähnten Klarheit – nötig sein. Wir wissen ja: Es muss nun mal sein und am Ende wird er oder sie sich auch wieder wohler fühlen."
Mit welcher Strategie man weiterkommt, hänge immer mit dem Menschen, aber auch der Phase zusammen, in der er sich gerade befinde: "Sie können einen perfekten Plan haben, doch ob er funktioniert, wissen Sie erst am Ende. Man kann es nur ausprobieren. Immer auf die Gefahr hin, dass es schiefgeht", beschreibt Mey die enorme Flexibilität, die Angehörige brauchen. "Man kämpft oft damit, nicht sauer zu werden. In dem Moment kann man es nur hinnehmen und sich denken: Vielleicht klappt es ein andermal."
Im Gespräch wird oft bewusst, was wichtig ist
Äußerst wertvoll sei erfahrungsgemäß der Austausch: Regionale Alzheimer-Gesellschaften bietet neben umfassender Beratung auch Selbsthilfegruppen für Angehörige an: "Viele tanken Kraft dabei, mit anderen in ähnlichen Situationen über ihre Sorgen zu sprechen. Sie geben einander aber auch wichtige Anregungen und Tipps für den Alltag."
Im Gespräch werde oft bewusst, welche Dinge besonders viel Kraft kosten und zu Konflikten führen – aber auch: "Dass man es mit der Zeit lernen kann, die Krankheit in den verschiedensten Situationen mitzudenken. Dass der andere es nie so meint. Dass es die Situation entspannt, Gesagtes stehenlassen zu können. Und dass uns das an manchen Tagen besser als an anderen gelingen wird. Wir sind eben nur Menschen."
Alzheimer-Telefon der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft e.V.: 030 - 259 37 95 14 (Montag bis Donnerstag von 9:00 bis 18:00 Uhr, Freitag bis 15:00 Uhr).
Über die Gesprächspartnerin
- Laura Mey ist Soziologin und seit zehn Jahren Beraterin beim Alzheimer-Telefon der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft.
Verwendete Quellen
- Interview mit Laura Mey
- Deutsche Alzheimer-Gesellschaft - Demenz-Wissen
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