Schon im Mai warnten die Vereinten Nationen vor den Gefahren Corona-bedingter Stressfaktoren wie Isolation, Arbeitsplatzverlust und Sorgen um das körperliche Wohlbefinden. Nach einer Besserung im Sommer spitzt sich die Corona-Situation nun wieder zu. Ein bisschen fühlt es sich wie ein Déjà-vu des Frühjahrs 2020 an. Was macht das mit unserer Psyche? Eine Psychotherapeutin gibt interessante Einblicke.

Ein Interview
von Tom Nebe (dpa)

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Beschränkungen wurden gelockert, die Fallzahlen gingen zurück: Im Sommer schien das Schreckgespenst Corona an Bedrohlichkeit zu verlieren. Doch es war nie weg, das wird nun deutlich, da sich wieder mehr Menschen anstecken und die Politik nun gegensteuert.

Für die Psyche ist solch ein Hin und Her belastend, sagt die Psychotherapeutin und Autorin Mirriam Prieß. Im Interview erklärt sie, warum die kürzer werdenden Tage das noch verschlimmern und wie man es schafft, mit der Situation bestmöglich umzugehen.

Frau Prieß, steigende Fallzahlen und mehr Einschränkungen: Die Coronakrise spitzt sich wieder zu. Was macht das mit unserer Psyche?

Mirriam Prieß: Für die Psyche ist jedes Auf und Ab und jedes Hin und Her ein Problem. Je häufiger das stattfindet – von einem Extrem in das nächste Extrem –, umso belasteter ist die Psyche. Je widerstandsfähiger ein Mensch ist, umso mehr ist er in der Lage, Krisen und existenziellen Bedrohungen auf Augenhöhe zu begegnen und das Bestmögliche daraus zu machen. Je mehr aber diese Resilienz fehlt, umso eher reagiert er auf Krisen mit unterschiedlichen psychosomatischen Symptomen – mit Angststörungen oder Depressionen, aber auch mit Erschöpfungssyndromen oder einem Burnout.

Verstärkt die Tatsache, dass die Krise nun in den Herbst und Winter geht, die Probleme? Machen Corona-Folgen in dieser Jahreszeit mehr Menschen mental zu schaffen als im Frühjahr?

Es sind sicherlich mehrere Aspekte, die hier eine Rolle spielen. Auf der einen Seite sind wir bereits geschwächt. Wir haben die Krise schon einmal durchlebt - verbunden mit der Hoffnung, dass sie vorbei und durchschritten ist. Jetzt kommt eine Wiederholung und das ist immer sehr belastend.

Hinzu kommt: Wenn die Tage kürzer und dunkler werden, wirkt sich das bei vielen Menschen im Negativen auf die Stimmung aus. Erneut mit den Beschränkungen und den Bedrohungen konfrontiert zu werden, in einer dunklen Jahreszeit: Diese Kombination ist eine hohe Belastung.

Auswirkungen der Krise auf die Psyche: Auch das Immunsystem leidet

Wie merkt man, ob einem die Krise psychisch mehr zu schaffen macht, als es gut ist?

Betroffene bemerken an unterschiedlichen Symptomen, dass die eigene Belastungsgrenze überschritten ist. Auf der Verhaltensebene findet, je belasteter ein Mensch ist, zunächst ein starkes Dagegen-Ankämpfen statt. Am Ende kommen der soziale Rückzug und die soziale Isolation. Auf der emotionalen Ebene beginnen eine innere Unruhe, Angst und Anspannung – daraus kann sich eine Panik entwickeln. Je länger die Belastung anhält, entwickelt sich daraus eine emotionale Ausgelaugtheit, depressive Erschöpfung und Resignation, die eine Bewältigung der Situation zunehmend erschwert. Auf der gedanklichen Ebene ist Grübeln ein typisches Stresssymptom.

Auf der Körperebene funktioniert das Immunsystem nicht mehr so gut wie gewohnt. Je mehr ein Mensch in seinem Leben kämpft und je höher der psychische Druck ist, desto mehr schwächt das die Körperabwehr. Rückenschmerzen, Magenprobleme, Kreislaufschwäche, Tinnitus, Allergieschübe: Je nachdem, wo Betroffene körperliche Schwachstellen haben, macht sich die Belastungssituation bemerkbar.

Welche Strategien helfen, um mental auf der Höhe zu bleiben und es nicht so weit kommen zu lassen?

Resilienz, die innere, psychische Widerstandsfähigkeit, entsteht durch eine innere und äußere Dialogfähigkeit. Jeder kann Stress dadurch reduzieren, indem er mit sich selbst im Dialog bleibt. Das heißt: aktiv darauf achtet, wie es ihm geht, auf Störungen rechtzeitig reagiert und bei körperlichen Symptomen rechtzeitig einen Arzt konsultiert. Wichtig ist ebenfalls, im Dialog über die eigene Belastung zu bleiben: innerhalb der Familie oder im Freundeskreis. Wenn man spürt, dass damit keine Entlastung entsteht, sollte man sich auch fachliche therapeutische Hilfe suchen.

Das Problem ist, dass Krisen dadurch verstärkt werden, dass die Menschen sich schämen, über die Ängste zu sprechen. Dass sie sich zurückziehen und isolieren, statt sich Hilfe zu suchen. Dadurch nehmen die Symptome weiter zu, und die Krise verschärft sich.

Ein zentraler Punkt ist, die Beziehung zu sich selbst zu stärken und sich jeden Tag etwas Zeit zu nehmen, in der man zur Ruhe kommt und sich fragt, ob man in dieser angespannten Situation auch genug auf seine Kosten kommt und was man konkret tun könnte, um sich zu entlasten und sich etwas Gutes zu tun. Ein Burnout, gerade in Krisen, entsteht immer dadurch, dass Betroffene gegen das kämpfen, was ist, anstatt innezuhalten und für ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen Nehmen und Geben zu sorgen.

Unangenehmen Gefühlen auf den Grund gehen

Würden Sie dazu auch generell raten? Also nicht erst dann, wenn es knirscht, sondern wenn man sich wirklich noch gut fühlt, damit es sich nicht verschlechtert?

Ja. Es gilt der Satz: Störungen haben immer Vorrang. In dem Moment, wo ich ein Störgefühl habe, sollte ich diesem auf den Grund gehen. Das ist eine zentrale Krisen- und Burnoutprävention: Viele Probleme würden so gar nicht entstehen, wenn wir rechtzeitig und vorausschauend reagieren.

Und man sollte stets schauen, wo und wie man sich stärken kann. Es gibt sechs entscheidende Bereiche im Leben: der gesundheitliche, der familiäre und partnerschaftliche, der berufliche, die sozialen Kontakte, der Bereich der Individualität und der Bereich des Glaubens. Diese sechs Lebensbereiche gilt es wesentlich auszufüllen.

Das klingt ziemlich kompliziert. Den meisten Menschen sind diese sechs Bereiche sicher gar nicht bewusst. Wie würden Sie das praktisch übersetzen?

Nehmen wir den Bereich Familie und Partnerschaft: Gelingende Beziehungen stärken die innere Widerstandsfähigkeit. Sich bewusst Zeit für das Wir und die Partnerschaft zu nehmen, offen über die eigenen Sorgen zu sprechen, im Rahmen der Möglichkeiten Zeit miteinander zu verbringen und Dinge zu unternehmen.

Das Gleiche gilt für den Freundeskreis: Statt sich zurückzuziehen, aktiv die Freundschaften zu pflegen und im Dialog zu bleiben. Ihre körperliche Gesundheit stärken Sie zum Beispiel durch Sport und bewusste Ernährung.

Krisenbewältigung zeichnet sich dadurch aus, in scheinbar unkontrollierbaren Situationen aktiv zu schauen, was man für die eigene Stärkung tun kann. Und da ist vieles möglich.

Gerade Treffen mit Freunden sind in Corona-Zeiten mitunter schwer umzusetzen. Angenommen, es kommen wieder mehr Einschränkungen: Da stünden wieder viele Menschen vor dem Problem der Isolation. Was würden Sie ihnen raten?

Umso wichtiger ist es dann, die sozialen Kontakte aktiv zu pflegen. Ob virtuell oder durch regelmäßige Telefonate. Gerade dort, wo die üblichen Treffpunkte und Aktivitäten nicht mehr gegeben sind, sollte man ganz gezielt im Rahmen der Möglichkeiten Beziehungen pflegen. Sich also aktiv erkundigen: "Wie geht es Dir?" Aber auch seine Bedürfnisse klarmachen: "Hast Du mal ein Ohr? Ich möchte mit dir reden."

Wie kriegt man das Schreckgespenst Corona im Alltag aus dem Kopf? Lässt es sich ausblenden?

Ich kann verstehen, was Sie mit Ausblenden meinen. Aber in dem Moment, wo Sie etwas ausblenden wollen, blendet es sich die ganze Zeit bei Ihnen ein. Dagegen angehen macht die Situation schlimmer und endet in der Erschöpfung. Es gilt, der Krise auf Augenhöhe gegenüberzutreten und realistisch zu bleiben. Je mehr ich mich in den Emotionen verliere, umso unkontrollierbarer wird die Situation. Die Coronakrise rührt bei Menschen immer auch an unbewussten Ängsten und unbewältigten Krisen. So hat mir eine Frau erzählt, dass der Lockdown sie an ihre Scheidung erinnert habe. Da habe sie von heute auf morgen völlig alleine dagestanden.

Das heißt: Wir werden mit alten, nicht verarbeiteten Gefühlen aus früheren Ohnmachts- und Krisensituationen konfrontiert, die aber mit der jetzigen Situation nichts zu tun haben. Sich darüber bewusst zu sein und darauf aktiv zu reagieren, ist ein ganz zentraler Punkt.

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(dpa/kad)

Zur Person: Dr. Mirriam Prieß ist Ärztin und Psychotherapeutin. Sie hat mehrere Bücher geschrieben und berät Firmen unter anderem im Bereich Gesundheitsmanagement und Prävention von Burnout.
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