Jährlich erzeugt der 21. September als Welt-Alzheimertag Aufmerksamkeit für die Schicksale Demenzkranker. Oft reißt die Krankheit nicht nur die Betroffenen aus ihrem Alltag, sondern auch deren Angehörige. Die Moderatorin Bettina Tietjen begleitete ihren Vater durch die Erkrankung und entdeckte trotz und auch durch die Demenz wundervolle Seiten an ihm.
Wie hat sich die Demenzkrankheit in das Leben Ihres Vaters geschlichen?
Haben Sie zu diesem Zeitpunkt schon mit der Diagnose gerechnet?
Wir wurden aktiv, als wir begannen, Angst um ihn zu haben und dass ihm etwas zustoßen könnte. Als erstes sind wir zum Neurologen gegangen, die üblichen Tests wurden gemacht und sein Zustand eingestuft. Dadurch war uns klar: Wir brauchen Hilfe, er kann nicht mehr alleine sein. Bis es allerdings so weit war, dass er rund um die Uhr betreut werden musste, vergingen Jahre. Die erste Hälfte seiner Demenz hat er noch eigenständig gewohnt, in der zweiten, schlimmeren Phase der Krankheit wurde er dann betreut.
Wie haben Sie auf die Diagnose reagiert?
Als wir es schwarz auf weiß gelesen haben, mussten wir uns ernsthaft überlegen: Wie verändern wir sein und unser Leben, um damit zurechtzukommen? Meine Schwester und ich waren uns einig, dass wir ihn so lange wie möglich zu Hause behalten möchten. Also versuchten wir es zunächst mit stundenweiser Betreuung.
An wen haben Sie sich damals gewendet?
Wir haben uns zuerst an die Pflegeberatung der Stadt Wuppertal gewendet. Die waren sehr, sehr gut. Der Mann, der uns beraten hat, arbeitete schon viele Jahre in dem Bereich und klärte uns ganz detailliert über die Demenz auf. Er sagte uns damals schon, dass wir irgendwann um ein Altersheim nicht herumkommen würden. Das wollten wir zu dem Zeitpunkt noch gar nicht wahrhaben.
Wie hat sich der Charakter Ihres Vaters durch die Krankheit verändert?
Als er selbst darauf aufmerksam wurde, war er sehr ungehalten, unzufrieden und verzweifelt. Er merkte: Mit mir stimmt etwas nicht und ich habe es nicht im Griff. Die Betreuung lehnte er ab. Er wollte auch nicht einsehen, dass er nicht mehr Auto fahren konnte. Das ist eine schwierige Situation, dem eigenen Vater zu sagen: Du darfst das nicht mehr, weil du dement bist. Das sagt man so nicht. Wir haben ihn dann mit Argumenten überzeugt und letztendlich hat er es eingesehen.
Nach dieser Zeit, in der er mit seiner geistigen Veränderung haderte, begann eine neue Phase. Auf einmal hatten wir ein Problem mit der Krankheit, und er nicht mehr. Er wurde immer emotionaler und fröhlicher. Nun freute er sich mehr an den kleinen Dingen des Lebens, als er es vorher jemals gekonnt hatte. Das liegt wohl daran, dass er sich mit den Zwängen, die ihm zeitlebens auferlegt waren, auch von der Traurigkeit verabschiedet hat. Dadurch wurde seine Beziehung zu uns Schwestern irgendwie entspannter und liebevoller. Das hat uns sehr getröstet.
Wie hat sich Ihr Verhältnis zu Ihrem Vater dadurch gewandelt?
Früher waren wir zwar auch vertraut, haben uns aber eher intellektuell mit ihm auseinandergesetzt. In den letzten Lebensjahren kam eine andere Seite seiner Persönlichkeit zum Vorschein, die wir gar nicht gekannt hatten. Er hat unmittelbarer gelacht und geweint, er hat herumgealbert, er mochte Körperkontakt. Dadurch sind wir als Familie viel enger zusammen gewachsen.
Welche Momente haben Ihnen besonders Hoffnung gegeben?
Es gibt diese Leere im Kopf nicht, vor der man sich oft fürchtet. Man muss sich nur die Zeit nehmen und die Mühe machen, herauszufinden, welche Fähigkeiten noch da sind. Mein Vater war ja Architekt und konnte bis zum Schluss sehr gut zeichnen. Wir haben oft zusammen gesungen – er konnte alle Lieder auswendig. Auch wenn wir gemeinsam Fotos angesehen haben, fiel ihm zu jedem Bild noch eine Geschichte ein. Wir waren beim Tanztee, haben Bücher angeschaut, Gedichte aufgesagt – lauter Kleinigkeiten, die das Leben schöner machen.
Hat all das Ihre Sicht auf das Alter verändert?
Es hat mir die Angst genommen, dass mir das auch passieren könnte. Man sollte sich nicht so sehr an seinen Verstand klammern. Auch wenn man sich selbst nicht mehr unter Kontrolle hat, kann man sich trotzdem noch seines Lebens freuen.
Was würden Sie Menschen raten, die mit Demenzkranken in der Öffentlichkeit in eine peinliche Situation geraten?
Man darf sich auf keinen Fall schämen. Es handelt sich um einen Bewusstseinszustand, der viele im Alter treffen wird. Das müssen auch die anderen lernen zu verstehen. Deswegen sollte man seine dementen Angehörigen immer in den Alltag mitnehmen. Ich habe auch oft beobachtet, dass viele den Demenzkranken Vorwürfe machen. Das ist ganz falsch.
Für wen haben Sie Ihr Buch geschrieben?
Der Verlag hat mich angesprochen. Zuerst habe ich gezögert, schließlich ist es eine sehr private Angelegenheit. Dann habe ich jedoch gemerkt, wie viele Menschen das Bedürfnis haben, sich zu dem Thema auszutauschen. Fast jeder kennt einen Demenzkranken persönlich, aber es gibt eine Hemmschwelle. Die Menschen sind froh, wenn sie über ihre Nöte und Gewissensbisse mit anderen reden können. Diesen Austausch wollte ich fördern.
Außerdem wollte ich von meinen positiven Erfahrungen mit dem Pflegeheim berichten, in dem mein Vater seine letzten Lebensjahre verbracht hat. Die meisten Menschen sehen nie ein Altersheim von innen, bis sie es müssen. Dabei leisten viele Pflegerinnen und Pfleger eine bewundernswerte Arbeit und werden viel zu schlecht dafür bezahlt.
Natürlich hat mir das Buch auch geholfen, meine Erlebnisse zu verarbeiten. Mit meiner Schwester habe ich intensiv darüber gesprochen und die Zeit nochmal Revue passieren lassen. Das war sehr wohltuend, denn viele Dinge habe ich erst im Nachhinein verstanden: Wie komplex das zum Beispiel war, was mit meinem Vater passiert ist, wie sich unser aller Leben gewandelt hat. Dadurch, dass ich mich so viel mit ihm beschäftigt habe, ist mir mein Vater nach dem Tod sogar noch ein Stück näher gerückt.
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