Der Kampf gegen Krebs ist bei Kindern besonders schwierig. Oft fehlen passende Medikamente. Manche Tumore haben aber Schwachstellen, an denen Ärzte ansetzen können – so wie bei der kleinen Enna.

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Sie wirft die Arme hoch, hüpft und dreht sich zur Musik im Kreis. Enna mit den wilden braunen Locken ist ein Wirbelwind. Die Siebenjährige wärmt sich auf für das Training der Dancing Moskitos. Das sind Gardemädchen, für die mit dem Karneval die turbulenteste Zeit des Jahres beginnt. Dort tobt sich auch Enna mit Gleichaltrigen aus. Nichts deutet darauf hin, dass das lebhafte Mädchen einen jahrelangen Leidensweg hinter sich hat.

"Ich konnte nicht mehr atmen."

Ennas Mutter Daniela über die Zeit nach der Diagnose

Hiobsbotschaft: Gehirntumor

Kurz vor Ennas viertem Geburtstag erhielten sie, ihre Eltern und ihre eineinhalb Jahre ältere Schwester Luisa eine Hiobsbotschaft, die ihr Leben total veränderte. Enna hatte zuvor über Übelkeit mit Erbrechen und Kopfschmerzen geklagt. Die Erstdiagnose kindliche Migräne stellte sich als Irrtum heraus, als ein unübliches Wachstum des Kopfes nicht mehr zu übersehen war. Die Magnetresonanztomographie (MRT) brachte dann die traurige Gewissheit: Gehirntumor. "Es war furchtbar, ich konnte nicht mehr atmen, ein beginnender Albtraum", erinnert sich Ennas Mutter Daniela vor dem Weltkrebstag am 4.2. an die ersten Momente nach Erhalt der Nachricht. In dieser Zeit sei sie in Todesangst um ihr Kind gewesen.

Kein Wunder, da Krebserkrankungen bei Minderjährigen sehr selten und mangels kindgerechter Medikamente schwer zu behandeln sind. Ennas Tumor gehört zu den Krebserkrankungen des Zentralen Nervensystems (ZNS), wie der Kinderonkologe Olaf Witt erläutert. "Gliome wie Enna eines hat, sehen wir bundesweit vier, fünf Mal im Jahr", fügt der Mediziner vom Hopp-Kindertumorzentrum (Kitz) in Heidelberg hinzu. Nach Blutkrebs mit fast 30 Prozent stellen die ZNS-Tumore die zweithäufigste Krebsart bei Kindern und Jugendlichen mit einem Anteil von nahezu einem Viertel.

Zentrales Nervensystem

  • Das zentrale Nervensystem (ZNS) umfasst die Nervenbahnen im Gehirn und Rückenmark. Hier werden alle Nervenbahnen und ihre Informationen verschaltet und verarbeitet. Primäre Tumore des ZNS nennt man Gliome.

Schwere Zeiten für die Familie

Zum Weltkrebstag - Krebserkrankungen bei Kindern
Daniela Bilke (l-r) und ihre beiden Töchter Enna (6) und Luisa sitzen in ihrem Wohnzimmer auf dem Sofa. © dpa / Uwe Anspach

Für die Familie aus einem hessischen Dorf nahe Frankfurt änderte sich nach Ennas Krebsdiagnose der Alltag radikal. "Ich blieb ein Jahr zuhause, Enna brauchte eine Eins-Zu-Eins-Betreuung, sie konnte wegen der Chemotherapie ja nicht mal die Treppe rauflaufen", erzählt die 40-jährige Mutter. Vater Christoph half in den ersten Monaten aus. Enna verlor wegen der Chemotherapie innerhalb weniger Tage all ihre Haare.

Aus Solidarität mit ihrem Kind rasierten sich die Eltern den Kopf, Luisa schnitt sich in Verbundenheit mit ihrer Schwester eine Haarsträhne ab. Der Stolz der beiden Mädchen ist eine riesige Stofftiersammlung. Bei jedem Krankenhausaufenthalt begleitet eines der über 100 Exemplare die kleine Patientin. Ihr Favorit ist ein großer Pinguin: "Der kann sprechen und sich bewegen und Küsschen geben", schwärmt die Erstklässlerin.

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Zwanzig Prozent aller Kinder sterben an den Tumoren

Das Kinderkrebsregister zählt jährlich 2.000 Fälle von Krebsneuerkrankungen bei Minderjährigen. Zum Vergleich: 500.000 sind es bei Erwachsenen. Zwanzig Prozent der jungen Patientinnen und Patienten sterben an den bösartigen Wucherungen. Bei Rückfall von Gehirntumoren sind es sogar 90 Prozent. Hinzu kommt, dass sich die Tumore von Kindern und Jugendlichen in sehr viele Untergruppen aufteilen lassen.

ZNS-Tumore etwa haben über 160 Untergruppen. Das ist Fluch und Segen zugleich. Witt, Direktor Translationale Kinderonkologie am Kitz: "Wegen der geringen Patientenzahlen sind Studien schwierig zu realisieren und müssen häufig in aufwendigen internationalen Kooperationen durchgeführt werden. Andererseits werden immer wieder Unterformen gefunden, die gut auf Medikamente ansprechen."

Studie: Vermeidbare Risikofaktoren wie Rauchen und Alkoholkonsum fordern jährlich Millionen Krebstote

Eine Studie eines internationalen Forschungsteams zeigt auf: Millionen Todesfälle durch Krebs könnten jedes Jahr vermieden werden, wenn Menschen Risikofaktoren vermeiden würden. Dabei führten Rauchen, Alkoholkonsum und Übergewicht die Liste von insgesamt 34 Risikofaktoren an, schreiben die Forschenden in der Fachzeitschrift "The Lancet". Zudem fanden sie große Unterschiede bei der Gefährdung von Männern und Frauen. Teaserbild: IMAGO / Robert Poorten

Mit Medikamenten abtöten: bei manchen Tumoren möglich

Auch Ennas Gliom, verursacht durch einen Gendefekt, gehört zu jenen Gewebeveränderungen, die auf bestimmte Arzneimittel reagieren. "Das ist wie ein Sechser im Lotto", meint Witt. Von mehr als 20.000 untersuchten Genen im Erbgut des Tumors war nur ein einziges defekt und für das Wachstum verantwortlich. Dieses Gen ist also eine Art Achillesferse des Tumors, die genutzt werden kann, um ihn mit Medikamenten gezielt abzutöten. Diese Identifikation von Tumor-Schwachstellen ist nur mit aufwendigen molekularen Verfahren möglich, wie sie in der INFORM-Studie des Kitz eingesetzt werden.

Für Witt ist die Entwicklung neuer Medikamente speziell für Kinder vordringlich. "Denn Tumore bei Kindern unterscheiden sich erheblich von denen bei Erwachsenen und benötigen eine darauf abgestimmte Arzneimittelentwicklung." Und die kleinen Märkte für seltene Krebsarten machen die Entwicklung für Pharmafirmen sehr teuer. Witt forderte mehr Bereitschaft der Unternehmen, bei der Entwicklung von Krebs-Arzneimitteln für Erwachsene solche für Kinder mit zu entwickeln.

"Mein Tumi hat einen Freund gekriegt."

Enna über ihren Rückfall

Nach erfolgreicher Behandlung kam der Rückfall

Enna profitierte von den neuen molekularen Analysemethoden im Rahmen von INFORM. Das Programm hat mittlerweile Tumore von über 3.000 jungen Krebspatienten aus 13 Ländern untersucht, bei denen Standardtherapien nicht mehr anschlagen.

Enna wurden nach vier Monaten Chemotherapie und elfstündiger Operation 96 Prozent des Tumors entfernt. Etwa 200 Gramm fremdes Gewebe hatte sich im Kopf des Kindes breit gemacht. Ein Jahr hatte die Familie Ruhe, dann meldete sich der Tumor aber zurück. "Mein Tumi hat einen Freund gekriegt", so kommentierte Enna damals in kindlicher Unbeschwertheit den Rückfall.

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Große Hoffnung in neues Medikament

Zu diesem Zeitpunkt stand in Heidelberg ein Medikament im Rahmen einer klinischen Studie zur Verfügung, das auf die gefundene Achillesferse in Ennas Tumor passt. Das Mittel hat innerhalb eines guten Jahres den Tumor auf Walnussgröße schrumpfen lassen.

"Eine Krebsdiagnose ist noch kein Todesurteil."

Ennas Mutter Daniela

Anderen Eltern rät Daniela eine offene Kommunikation. Eine WhatsApp-Gruppe informiert Freunde und Familie über Ennas Gesundheitszustand. "Dann müssen wir nicht immer alles mehrfach berichten und alle sind auf dem aktuellsten Stand", sagt die Mutter, deren Locken - wie auch bei Enna - inzwischen nachgewachsen sind.

Witt gibt betroffenen Eltern den Rat, insbesondere bei seltenen Tumorerkrankungen in jedem Fall eine Zweitmeinung von einem erfahrenen Expertenteam einzuholen. Dafür sei die Kinderonkologie in Deutschland gut aufgestellt und vernetzt.

Bei Enna beschränken sich mögliche Nebenwirkungen bislang auf eine leichte Gewichtszunahme. Daniela ist mehr als ein Stein vom Herzen gefallen. "Enna lebt, und sie bleibt am Leben. Das ist ein ganz großes Glück." Sie freut sich, dass ihre Tochter trotz aller Pein ihr sonniges Gemüt behalten hat. "Sie kann ein ganz normales glückliches Leben führen mit Sport, mit Hobbys und Freunden." Daniela hofft, dass Enna in drei oder vier Jahren komplett tumorfrei ist. Eines ist für sie nach anfänglichen Ängsten aber jetzt schon klar: "Eine Krebsdiagnose ist noch kein Todesurteil." (Julia Giertz, dpa/mak)

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