Urlauber und Fernfahrer auf der Autobahn, Konzert- und Messebesucher, Paketdienste - sie alle sind auf möglichst gut fließenden Verkehr angewiesen. Entwickler aus Hannover setzen beim digitalen Routing auf selbstlernende Technologie. Kann sich das Verfahren durchsetzen?
Wenn wie jetzt die Ferien zu Ende gehen, wird es auf Deutschlands Autobahnen immer besonders eng. Aber auch manchen Innenstädten könnte bald der Verkehrsinfarkt drohen, falls etwa der Boom des Onlinehandels so weitergeht wie bisher.
Ein Problem dabei: Viele Menschen, die ihre Fahrstrecke per Navi oder Straßen-App berechnen lassen, orientieren sich nur an der für sie selbst als optimal dargestellten Route. Tun das Hunderte gleichzeitig, können auch alternative Wege schnell verstopfen. Der Stau neben dem Stau.
"Wir wollen den Verkehr reparieren", sagt Sebastian Heise. Das mag ein wenig pathetisch klingen. Doch der Mitgründer der hannoverschen Firma Graphmasters hat mit Kollegen einen Ansatz entwickelt, der zumindest zu einem deutlichen Abbau von Engpässen beitragen könnte.
Es geht um eine Technologie, die Streckenpläne aller angeschlossenen Kunden laufend abgleicht. Ein solches dynamisches Routing gibt keine "egoistisch" ermittelten Start-Ziel-Kombinationen aus, sondern hat während der Fahrt ständig alle individuellen Vorschläge sowie mehrere Verkehrsmodelle im Blick - bei Bedarf wird in Echtzeit nachjustiert, Voraussagen und reale Lage beziehen sich aufeinander. Das Verfahren, das im Hintergrund wirkt, lernt zudem dazu. Die Grundidee: Künstliche Intelligenz (KI) statt starrer Algorithmen im Verkehr nutzbar machen.
Zwei Werte haben Einfluss auf Bildung möglicher Staus
Heise sieht herkömmliche Methoden, die wir aus Radio wie Internet kennen, am Limit: "Nicht die Prognosen an sich sind das Problem. Aber die Reaktionen der Verkehrsteilnehmer auf die Prognosen. Es fehlen sinnvolle Handlungsempfehlungen." Bessere Steuerung könnte überdies helfen, von reinen Begrenzungsdebatten wie etwa beim Dieselthema wegzukommen. Nicht allein wie viel Verkehr entstehe, sei relevant - ebenso, wie man die vorhandene Verkehrslast organisiere. "So kann ich am Ende auch deutlich mehr Emissionen einsparen", meint Heise.
Kernstück ist die Plattform NUNAV. Über Cloud-Computing-Verfahren kann sie pro Minute bis zu 24.000 Routenpläne anpassen - auf Basis von rund eineinhalb Millionen Rohdaten. Nach Graphmasters-Schätzungen führen die Optimierungen der Wege dank "Schwarmintelligenz" der Teilnehmer dazu, dass allein durch den Einsatz bei Kurierdiensten pro Jahr etwa 7.700 Tonnen weniger Kohlendioxid anfallen.
Medieninformatiker Heise erläutert das System in einem Gründerzentrum am Rand Hannovers anhand mehrerer Diagramme. Eines zeigt eine riesige Punktwolke, die Verkehrsfluss - Fahrzeuge pro Minute - und gemessene Fahrgeschwindigkeit auf einem dreispurigen Autobahn-Teilstück ins Verhältnis setzt. Ein anderes gibt die Verbindung von Verkehrsdichte - Fahrzeuge pro Kilometer - und Tempo wieder. In beiden Fällen sieht man, dass schon verschiedene Kombinationen nur dieser Werte einen beträchtlichen Einfluss auf die Bildung möglicher Staus haben können.
Weniger rote "Flaschenhälse" durch KI
Für jeden Einzelnen eine optimale und dabei die Pläne Anderer nicht "gefährdende" Route zu erarbeiten, erfordert enorme Rechenleistung. "Wir haben das mittlerweile an externe Dienstleister vergeben", so Heise. Das Ergebnis zweier Simulationen für Berlin und Peking wirft er auf einen anderen Schirm: Ohne dynamische Führung sammeln sich Autos alsbald an neuralgischen Punkten auf der digitalen Karte - bei Nutzung weniger Hauptstrecken passiert das selbst in einer Megacity vergleichsweise rasch. Mit der KI in der Hinterhand ergeben sich dagegen deutlich weniger rote "Flaschenhälse" in der Animation.
Das "collaborative routing" stößt bei privaten wie staatlichen Kunden auf Interesse. Unter anderem verwenden die Messen Köln und Hannover, der Paketdienst Hermes, die Post in Österreich, die Stadt Salzburg, Busfirmen und Lieferservices oder die Verkehrsmanagement-Zentrale (VMZ) in Hannover die Systeme von Graphmasters. Letztere nutzt die Routenempfehlungen auch zu Anreise- und Parksteuerung bei Großevents.
"Inzwischen sind wir so in der Lage, die Verkehre dahin zu lenken, wo wir sie haben wollen", sagt Holger Heuer aus der VMZ. Er ist dort mit weiteren Angestellten und Beamten aus der Region Hannover sowie dem Wirtschafts- und Innenministerium Niedersachsen für die Koordination zuständig. "Auch weil wir Meldestelle für den Verkehrswarndienst sind, ist es gut, mit dem System arbeiten zu können."
Dieses sei vor allem bei Ausstellungen oder Konzerten nützlich. "Der Vorteil im Vergleich zum normalen Navi ist, dass wir aktive Korridore einrichten können", sagt Heuer. So ließen sich Besucher gezielt zu Park-and-Ride-Flächen außerhalb des Zentrums lenken. "Bei Rammstein und Phil Collins war alles ausverkauft.
Aber einige Gäste erzählten, sie hätten gar nicht gemerkt, dass noch Tausende andere unterwegs waren." Bei der Agrartechnikmesse Agritechnica seien Busladungen aus ganz Deutschland relativ geräuschlos zum und vom Gelände gekommen.
Technik auch in der Logistik beliebt
Der ADAC hält "kollektiv gekoppeltes Routing" für zukunftsträchtig. "Oft sind ja auch Umleitungen überlastet", meint Felix Kaufmann, Sprecher für Technik und Umwelt bei dem Autoclub, mit Blick auf die Ferien-Staulage. Systeme wie NUNAV sollten zudem noch mehr mit der Infrastruktur ("Car-to-X-Kommunikation") wie Ampelsteuerungen zusammengebracht werden. "Das Ziel ist es, den Verkehr im gesamten Straßennetz zu verflüssigen. Und wenn das Netz leistungsfähiger ist, gibt es weniger Staus und Emissionen und mehr Verkehrssicherheit."
Auch in der Logistik hat sich die Technik herumgesprochen - zumal Faktoren wie Höhenbegrenzungen oder Einfahrbeschränkungen von der KI berücksichtigt werden. Bei der Tourenplanung zähle oft jede Sekunde, sagt Carsten Hansen vom Bundesverband Paket und Expresslogistik. Dynamisches Routing könne die Effizienz und Sicherheit erhöhen: "Das bekommt man hin, wenn man im Idealfall auch die Beladung der Fahrzeuge mit der Navigation und zur Auslieferung mit den Endgeräten der Zusteller koppelt." Am Ende ließen sich Wege einsparen - was manchen vom Lieferverkehr belasteten Innenstädter freuen dürfte. © dpa
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