Flügeltüren, Benzin-Direkteinspritzung, Gitterrohrrahmen: Drei Worte, ein Auto – Mercedes 300 SL. Wir erklären, was das Besondere am Traumsportwagen ist und wie er fährt.
Kein anderer Sportwagen hat eine Aura wie der Mercedes-Benz 300 SL, kein Detail der Automobilgeschichte besitzt einen Wiedererkennungswert wie die Flügeltüren des Coupés. Technisch ist die Benzin-Direkteinspritzung des Sechszylinders eine Weltneuheit beim Viertaktmotor. Das Rückgrat des 300 SL bildet ein besonders verwindungssteifer Gitterrohrrahmen, der dem Rennwagen von 1952 entliehen ist. Darüber schwingen sich die Karosserierundungen, unverwechselbar gestaltet von Chefstilist Friedrich Geiger. Er machte sich seit den 30er-Jahren einen Namen als Mercedes-Formgestalter für Traumwagen. Das Erfolgsrezept des 300 SL ist die stimmige Mischung aus raubeinigem Rennsportcharakter und solider Serienbauweise mit einem Schuss Luxus und Avantgarde.
Der Motor: 6 Zylinder, 215 PS
Unter der Motorhaube mit den zwei markanten Wölbungen ("Powerdomes") steckt der Dreiliter-Motor mit Trockensumpfschmierung, um 45 Grad nach links zur Seite geneigt. Die hängenden Ventile werden über eine Nockenwelle gesteuert, die von einer Duplexkette angetrieben wird. Mit der Sportnockenwelle, einer häufig bestellten Option, leistet der Reihenmotor 215 PS. In der Basisversion sind es nur 190 PS. Ohne Option ist dagegen das Getriebe: Für den 300 SL gibt es nur ein Viergang-Schaltgetriebe. Insgesamt fünf Varianten gab es dagegen für die Hinterachsübersetzung: Mit der Standardversion erreichte der 300 SL eine Spitzengeschwindigkeit von 228 km/h. Den Sprint aus dem Stand auf 100 km/h erledigte der Sportwagen in 9,3 Sekunden.
Scheibenbremsen? Nein. Leichtbau? Naja
Das Fahrwerk übernahmen die Mercedes-Entwicklungsingenieure vom Rennsportwagen und vom Prototypen aus dem Jahr 1953: die Einzelradaufhängung mit Doppel-Querlenkern vorn und eine Schwing-Pendelachse hinten. Verzögert wurde über eine Trommelbremsanlage. Scheibenbremsen, die bei Jaguar bereits auf Oktober 1954 zur Serienausstattung gehörten, gab es erst ab März 1961 beim 300 SL Roadster. Trotz des aufwändig in Handarbeit gefertigten Gitterrohrrahmens, der aus dünnen Stahlrohren zusammengeschweißt wurde, war das Coupé mit 1.310 Kilogramm verhältnismäßig schwer. Die Stahlbleche für die Karosserie, Stoßstangen, den Bremskraftverstärker, die Heizung, Dämmmaterial und die Innenausstattung für den Serien-SL fordern ihren Tribut. Zum Vergleich: Der Rennsportwagen wog mit der Leichtmetallkarosserie nur 1.060 Kilogramm.
Um das Gewicht der Serienversion zu senken, experimentierten die Ingenieure beim W198 mit Leichtbau. Mit der Leichtmetallkarosse, deren Form dem herkömmlichen Typ entsprach, verringerte sie das Leergewicht auf 1.203 Kilogramm. Doch mit 29 Exemplaren, die meisten gebaut im Jahr 1955, blieb das "Alu-Coupé" eine Miniserie. Dagegen blieb das Exemplar mit Kunststoffkarosserie aus GfK ein Einzelstück (Chassisnummer 198 040-55 00028).
Wofür steht die Abkürzung SL in der Typenbezeichnung?
Lange Zeit galt "Sport Leicht" als Auflösung des Buchstabenkürzels. Doch anlässlich des 60-jährigen Modelljubiläums wurde im Werksarchiv ein Dokument entdeckt, in dem die Abkürzung als "Super Leicht" aufgelöst wurde. So wurde der Rennsportwagen auf der Einladung zur Pressepräsentation 1952 bezeichnet, die mit dem Namen von Rudolf Uhlenhaut, damals Chef der Versuchsabteilung, gezeichnet ist. Der Ingenieur wird als "Vater des 300 SL" bezeichnet.
Wie fährt sich der Flügeltürer?
Der Einstieg in den Flügeltürer klappt trotz der breiten Schweller erstaunlich gut, hier hilft die große Türöffnung. Auch mit 1,90 Meter Körpergröße bietet der 300 SL genügend Platz und eine angenehm aufrechte Sitzposition. Das Zweispeichen-Lenkrad ist auffällig groß; eine Servolenkung gab es nicht. Manche Besitzer lassen eine elektrische Servolenkung nachrüsten, was jedoch nicht dem Original entspricht. Der Zündschlüssel sitzt beinahe mittig im Armaturenbrett, der Beifahrer hat einen eigenen Hupknopf.
Der Motor startet nach einem Druck auf den Schlüssel mit einem recht zivilen Geräusch, das sehr mechanisch klingt. Das Kupplungspedal braucht zum Niedertreten Kraft, der erste Gang rastet präzise ein. Weich greift die Kupplung, der SL rollt los. Alles ganz unspektakulär.
Während sich Motoröl und Kühlwasser aufwärmen bleibt Zeit, sich im Auto umzusehen: Viel zu bedienen gibt es nicht, fein gezeichnete Instrumente informieren über alle wesentlichen Daten. Je ein großes Rundinstrument zeigt Drehzahl und Geschwindigkeit an, vier kleinere die Temperaturen von Öl und Wasser sowie Öldruck und Uhrzeit. Die Uhr ist mechanisch und gehört von Zeit zu Zeit aufgezogen.
Doch das Fahren ist jetzt wichtiger; den Flügeltürer mit einer Hand und halber Konzentration zu steuern, verbietet sich zum einen wegen des Werts in Höhe eines Reihenhauses in guter Großstadtlage, zum anderen wegen der Pendelachse. Die verändert beim scharfen Bremsen Spur und Sturz, weshalb es sich in Kurven nicht empfiehlt, vom Gas zu gehen oder beim Bremsen lenken zu wollen.
Mit Sicherheitsabstand zum Grenzbereich zieht der betagte Benz souverän seine Bahn: Er federt komfortabel, geht gut vorwärts und der Benzin-Direkteinspritzer hängt aufmerksam am Gas. Drehfreude und Klang machen süchtig; das ist nicht mehr der Antrieb des repräsentativen Adenauer-Mercedes, sondern ein Sportmotor.
Aus heutiger Sicht sind Bremsen und Fahrverhalten mindestens gewöhnungsbedürftig: Die vier Trommelbremsen brauchen für kräftige Verzögerung einen ebensolchen Tritt. Die Lenkung reagiert zunächst teilnahmslos, um dann umso giftiger anzusprechen. Wer hier korrigieren muss, braucht Feingefühl und Übung.
Wie unterscheidet sich der Roadster vom Flügeltürer?
1957 folgt der offene 300 SL Roadster mit der gleichen Antriebstechnik wie das Coupé. Das Fahrwerk war allerdings verbessert worden. Die Hinterräder waren jetzt an einer Eingelenkpendelachse mit tiefgelegtem Drehpunkt geführt, was die Straßenlage stark verbessert. Zusätzlich wurde die Spurweite vorn und hinten vergrößert. Der Testredakteur von auto motor und sport schrieb begeistert: "Vom Fahreindruck her ist der 300 SL Roadster eines der erstaunlichsten Autos, das je in Serie gebaut wurde". Ab März 1961 gehörten Scheibenbremsen vorn und hinten zur Serienausstattung. Viele 300 SL Roadster wurden später darauf umgerüstet. Der Gitterrohrrahmen wurde an den beiden Seiten nach unten gezogen, so dass der Einstieg über konventionell angebrachte Türen wesentlich einfacher war.
Außerdem bekam die markante Frontpartie ein Facelift: Statt der runden Scheinwerfer verfügt der Roadster über senkrechte, rechteckige Leuchteinheiten für Scheinwerfer und Blinker. Das Tankvolumen wurde von 130 auf 100 Liter verringert. Das Verdeck war ein Meisterwerk von Stilist Friedrich Geiger: Es galt seinerzeit als das am einfachsten von Hand zu bedienende Verdeck. Ab September 1958 konnte man zum Aufpreis von 1500 Mark ein Stahlhardtop (Coupédach) als Zusatzausstattung kaufen.
Weltpremiere in New York
Der 300 SL ist Mitte der 50er-Jahre "ein Fahrzeug, das den Namen Mercedes-Benz wieder vergoldet". Der zweisitzige Sportwagen folgte damit ab dem ersten Entwicklungsschritt einer klaren Strategie: Der 300 SL sollte ein neues Markenimage prägen und damit den wichtigen US-Markt zu öffnen. Die New York International Automobile Show war bewusst als Ort für die Weltpremiere am 6. Februar 1954 ausgewählt worden. Gebaut wurde der W198 zunächst als geschlossenes Coupé wie der zwei Jahre zuvor der Rennsportwagen (W194). Seine Flügeltüren sind ab dem ersten Einsatz bei der Mille Miglia im April 1952 ein gut in Szene gesetztes Spektakel. Doch gerade beim Seriensportwagen sorgen sie für eine Komforteinbuße. Erst für den Roadster kann der Gitterrohrrahmen aus dünnen Stahlrohren ohne Einschränkung der Steifigkeit so verändert werden, dass die Türen konventionell eingebaut werden können.
Damit fährt Mercedes ab 1954 auch in der Serie mit einem Schlag auf dem Niveau der europäischen Sportwagenelite aus Italien und England wie zum Beispiel Ferrari, Jaguar oder Aston Martin. Das alles haben die Ingenieure mit Rudolf Uhlenhaut an der Spitze mit einer feinen Balance aus Funktionalität und Luxus abgestimmt. Trotz des horrenden Kaufpreises von 29.000 Mark wurden allein vom Coupé insgesamt 1400 Exemplare gebaut. Zusammen mit dem 300 SL Roadster werden von der intern als W198 bezeichneten Baureihe bis 1963 insgesamt 3.258 Exemplare gebaut.
Zum Vergleich: Ferrari verkaufte den ersten 250 GT (in der zivilen 240 PS-Version) von 1958 bis 1960 insgesamt nur rund 350 Mal. Jaguar baute dagegen vom XK 140 (Oktober 1954 bis Februar 1957) insgesamt rund 8.950 Exemplare, also mehr als das Sechsfache der 300-SL-Stückzahl.
Max Hoffmans Gespür für Verkaufserfolge
Auch der Verkaufserfolg ist Teil der Flügeltürer-Legende: Dank des Einsatzes des aus Österreich stammenden US-Großhändlers Max Hoffman ist Mercedes mit einem Schlag auf dem wichtigen US-Markt präsent. Mit seinem untrüglichen Gespür für Verkaufserfolge hat Hoffman die deutsche Firma erst dazu motiviert, aus dem Rennwagen-Projekt für die Saison 1952 einen Seriensportwagen zu entwickeln. In den entscheidenden Vorstandssitzungen musste Hoffman mit deutlicher Kritik an der Modellpolitik erheblichen Druck ausüben. Doch 300-SL-Fans aufgepasst: Um Hoffmans zweifellos entscheidendes Engagement für den deutschen Sportwagen ranken sich einige Legenden. Zumindest drei lassen sich widerlegen.
Welche Mythen rund um den 300 SL stimmen nicht?
- Das 300 SL Coupé war Max Hoffmans Wunschauto
Das stimmt nicht: Der erfolgreiche Importeur und Händler wollte keinen geschlossenen GT, sondern forderte von der Daimler-Benz AG stets einen offenen Sportwagen: "unter allen Umständen, der alleine die Existenzgrundlage für die Händlerorganisation geben kann." So ist es im Protokoll der Vorstandssitzung vom 2. September 1953 festgehalten. Außerdem missfiel Hoffman, damals seit einem Jahr Mercedes-Importeur für die US-Ostküste, die triste Farbgestaltung der Autos aus Untertürkheim.
- Hoffman garantierte die Abnahme von 1000 Exemplaren des 300 SL
Angeblich führte er diese Zusage des Großhändlers erst zur Entwicklung des Supersportwagens. Dafür ist aber kein Dokument bekannt, dass eine solche Aussage belegt. Tatsache ist allerdings, dass 80 Prozent aller Flügeltürer in die USA ausgeliefert wurden. In Europa entwickelte sich in den 50er-Jahren gerade erst der Markt für Luxusautos.
- Dank Importeur Max Hoffman wurde auch der 300 SL Roadster zum großen Erfolg
Das ist nicht mehr möglich: Als die ersten offenen 300 SL gebaut werden, löst der bekannteste Händler der Auto-Geschichte gerade seinen Vertrag auf. Am 11.4.1957 trennen sich der Hersteller von seinem US-Importeur um den Preis einer Abfindung. Stattdessen sorgte Studebaker-Packard mit seinen rund 2500 Händlern für den Vertrieb der Mercedes-Pkws wie den neuen, ab Mai 1957 gebauten 300 SL Roadster. Den Import hat die im April 1955 gegründete Daimler-Benz of North America übernommen.
Wie erfolgreich war der 300-SL-Rennsportwagen?
Mit dem W 194 kehrte Mercedes 1952 in den internationalen Motorsport zurück. Das Werksteam gewann das 24-Stunden-Rennen von Le Mans und feierte bei der Carrera Americana einen Doppelsieg. Bei diesem Rennen kam es zu dem Unfall mit einem Raubvogel, der in die Windschutzscheibe des Autos von Karl Kling und Hans Klenk flog. Nach dem Zwischenfall wurden vor der Scheibe senkrechte Gitterstäbe montiert und das Team gewann das Straßenrennen. Dieser Erfolg in Mexiko im November 1952 machte den 300 SL auch in den USA bekannt.
Mercedes arbeitete 1952 bereits an einem Nachfolger: Doch von dem "Hobel" genannten Coupé entstand nur ein Prototyp, der heute noch zur umfangreichen Werkssammlung gehört. Er verfügte bereits über einen Sechszylindermotor mit Direkteinspritzung. Doch das Projekt endete mit dem Vorstandsbeschluss, 1954 mit einem Werksteam in die Formel 1 einzusteigen.
Bekannte 300-SL-Besitzer
Zum Kreis der Besitzer gehören Ex-Formel-1-Konstrukteur Ross Brawn und der US-Modeunternehmer Ralph Lauren. Ein 300 SL krönt jede bedeutende Sammlung. Die verhältnismäßig große Stückzahl sorgt heute für eine große Anzahl von Sammlern, die ein oder sogar mehrere 300 SL der W 198-Baureihe in der Sammlung haben. Eine ganze Reihe von namhaften Restaurierern und Werkstätten wie zum Beispiel Klaus Kienle, Hans Kleissl (HK-Engineering) oder Mechatronik sorgen dafür, dass viele Exemplare trotz teilweise intensiver Nutzung zum Beispiel beim Einsatz in Oldtimerrallyes wie der Mille Miglia erhalten bleiben.
Illuster ist schon die Liste von Erstbesitzern mit Schauspielstars aus Hollywood, Adeligen und wichtigen Wirtschaftsvertretern: Aga Khan, der Whiskey-Erbe und Formel-1-Teambesitzer Rob Walker, die Familie von Opel, Formel-1-Weltmeister und Werksfahrer Juan Manuel Fangio, sein Teamkollege Stirling Moss, der deutsche Rennfahrer Toni Ulmen, der Rennfahrer und spätere CSI-Präsident Alfons Fürst von Metternich, die Familie Henkel, Stardirigent Herbert von Karajan, Kurt Ahrens, der Schwerindustrielle Alfried Krupp, der König von Jordanien, die Hollywood-Schauspieler Tony Curtis und Clark Gable, STERN-Gründer Henri Nannen und Schauspielerin Romy Schneider, die 1958 einen Roadster kaufte.
Die Versteigerungs- und Preis-Rekorde
Gute Exemplare werden für Preise von rund einer Million Euro gehandelt. Allerdings variieren die Preise stark je nach Geschichte und Zustand des angebotenen Autos. Im Dezember 2018 erzielte ein Flügeltürer (Baujahr 1955) aus der Sammlung eines großen Wiener Mercedes-Händlers in der Auktion von Dorotheum einen Verkaufspreis von 1.492.600 Euro. 2014 sorgte ein unrestauriertes Exemplar aus dem Baujahr 1956 bei einer Auktion in Scottsdale (USA) für Aufsehen: Das Coupé wurde für 1.897.500 US-Dollar verkauft. Für einen 300 SL Roadster wurde 2018 ein Preis von 3.071.200 Euro gezahlt. Ein Extrem: Dieses Exemplar aus dem letzten Baujahr 1963 war nur 1.500 Kilometer bewegt worden und hatte nur einen Vorbesitzer.
Was macht einen 300 SL besonders teuer?
Neben dem Zustand und der Geschichte (prominente oder eine geringe Anzahl von Vorbesitzern) steht originales Zubehör wie Rudge-Felgen mit Zentralverschluss, ein Maß-Kofferset oder das Stahl-Hardtop (Roadster) hoch im Kurs. Auch eines der nur 29 Leichtmetall-Coupés sorgt für einen wesentlich höheren Preis. © auto motor und sport
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