Mehrere Studien aus den vergangenen Jahren zeigen: Junge Menschen fühlen sich, insbesondere nach der Pandemie, von der Politik und Gesellschaft im Stich gelassen und kaum gehört. Was macht das mit einer Gesellschaft? Wir haben mit Sebastian Sedlmayr von UNICEF Deutschland darüber gesprochen, was sich für Kinder ändern würde, wenn Kinderrechte es ins Grundgesetz schaffen würden.
Es ist Sonntagabend, 20:15 Uhr im Ersten. Die meisten Menschen in Deutschland wissen, was jetzt passiert. Jedoch nicht so am 18. August, als anstelle der "Tatort"-Titelmusik die Komikerin
Unterstützt wurde die Aktion auch von UNICEF Deutschland, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen. Sebastian Sedlmayr ist hier der Leiter der Abteilung Advocacy und Politik. Sein Team hat gemeinsam mit dem von Carolin Kebekus in den letzten Wochen eine Social Media Kooperation unter dem Hashtag #KINDERstören entwickelt. Sedlmayr freut sich nun, dass die Aktion bei der ARD so großen Anklang in der Öffentlichkeit gefunden hat.
Herr Sedlmayr, wieso haben Kinder in Deutschland keine Lobby?
Sebastian Sedlmayr: Ich glaube, dafür gibt es keinen spezifischen Grund. Wir haben leider in der ganzen Welt die Problematik, dass Kinder, insbesondere natürlich jüngere Kinder, nicht auf sich selbst aufmerksam machen können. Das führt zu einer strukturellen Benachteiligung. In Deutschland versuchen Verbände wie der Kinderschutzbund, die SOS-Kinderdörfer und eben auch UNICEF, die Interessen von Kindern immer wieder in die Öffentlichkeit zu bringen. Aber Kinder dürfen nicht wählen und tragen erst, wenn sie erwachsen sind, zum Bruttosozialprodukt bei – es gibt mit Kindern kurzfristig also keine politische und ökonomische Rendite.
Kinder sprechen uns emotional zum Glück stark an. Hilft das, ihre Belange in die Öffentlichkeit zu bringen?
Ja, das generiert Kindern dann doch einen besonderen Stellenwert und Aufmerksamkeit. Aber eben auch meist nur dann, wenn es passt. Und wenn es mal stört, dann ist es leider auch leicht, das Thema wieder beiseitezuschieben oder zu sagen: Wir kümmern uns um andere Themen, aber ihr Kinder, seid jetzt bitte mal ruhig.
Denken Sie, es hat einen Einfluss auf die Gesellschaft, wenn Kinder so wenig gehört werden?
Sicher, denn es gibt keine prägendere Zeit als die Kindheit. Das macht es auch so wichtig, diesen ersten Jahren viel Aufmerksamkeit zu schenken. In aktuellen Befragungen ist zu sehen, dass Kinder und Jugendliche sich nicht gehört fühlen, beispielsweise auch während der Corona-Pandemie. Und den Belangen von Kindern und Jugendlichen keine Aufmerksamkeit zu schenken, kann schon dazu führen, dass einige sich von Politik und der öffentlichen Debatte abwenden und nicht mehr als Teil der Gesellschaft begreifen. Eine solche Entwicklung ist für uns als eine Gesellschaft mit großen Risiken verbunden, weil es letztlich den Zusammenhalt gefährdet. Wir müssen deshalb junge Menschen auch in öffentliche Debatten mit einbinden, damit sie uns nicht "abhandenkommen".
UNICEF setzt sich aktiv dafür ein, dass Kinderrechte ins deutsche Grundgesetz mit aufgenommen werden. Was würde sich in dem Fall konkret für Kinder ändern?
Kinder haben natürlich prinzipiell alle Menschenrechte, die auch Erwachsene haben. Aber Kinder haben eben auch eigene Rechte, das wird oft nicht verstanden. Die Kinderrechte, die in der UN-Kinderrechtskonvention stehen, sind im deutschen Grundgesetz so nicht enthalten. Das ist zum Beispiel das Recht auf besonderen Schutz vor Gewalt, denn Kinder können sich nicht selbst zur Wehr setzen. Sie haben, aber auch ein Recht auf eine gute Schulbildung oder das Recht auf Spiel und Freizeit.
Wenn diese Rechte im Grundgesetz verankert wären, dann könnten sie in Gerichtsprozessen viel einfacher angewendet werden. Es gibt bislang sehr wenige Gerichtsurteile, die sich auf die Kinderrechtskonvention beziehen. Wir von UNICEF und vielen anderen Verbänden erhoffen uns, dass Kinderrechte bekannter und wirksamer werden. Was dann eine Grundgesetzänderung konkret im Einzelfall bedeutet, wird aber auch von den jeweiligen Instanzen wie zum Beispiel Richterinnen und Richtern abhängig sein.
UN-Kinderrechtskonvention von 1989
- 1989 beschloss die UN die sogenannte Kinderrechtskonvention, in der die Interessen und Bedürfnisse von Kindern hervorgehoben werden. Das Regelwerk gilt für Kinder weltweit -unabhängig von ihrem Wohnort, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion oder ihres Geschlechts.
Damit wären Kinderrechte also nur ein Bestandteil von vielen in einer gerichtlichen Entscheidung?
Genau. Nehmen wir mal ein aktuelles Beispiel: die Debatte um das Verbot von Werbung für Süßigkeiten. Hier müsste dann eben noch stärker abgewogen werden, ob die Rechte von Kindern betroffen sind. Das Ergebnis ist offen, es kann sein, dass die Gerichte trotzdem anerkennen, dass in großem Umfang für Süßigkeiten geworben werden darf. Aber die besonderen Rechte von Kindern müssten in diesem Fall konkret mit einbezogen werden, beispielsweise ihr Recht auf ein gesundes Aufwachsen.
An welchem Punkt steht UNICEF bei dieser Forderung?
Wir appellieren weiter an die Politik, sich mit dem Thema zu befassen und zu einer Lösung zu kommen. Fast alle im Bundestag vertretenen Parteien haben das Thema bereits auf ihrer Agenda. 2021 ist es nicht gelungen, eine konkrete Formulierung zu finden, auf die sich alle einigen konnten, aber wir hoffen, dass dies entweder noch mit der jetzigen Regierung passiert oder dann mit der nächsten gelingt. Da sind wir zuversichtlich.
Das Format #KINDERstören hat ein ziemliches Echo hervorgerufen, bei Social Media haben sich viele dazu sehr positiv geäußert, auch aus der Politik kam Lob. Kann so ein Format etwas Grundlegendes verändern?
Ich hoffe, dass im Bewusstsein bleibt, wie stark der Zuspruch aus der Bevölkerung ist. Bei Befragungen kam heraus, dass über 80 Prozent der Erwachsenen und über 90 Prozent der unter 18-Jährigen, Kinderrechte im Grundgesetz verankert haben wollen. Das sind extrem hohe Zustimmungswerte. Als vor einigen Jahren die hessische Landesverfassung per Volksentscheid geändert wurde, haben es die Kinderrechte mit überwältigender Zustimmung in die Landesverfassung geschafft. Ich glaube, die Politik muss erkennen, wie viel Zustimmung es für eine bessere Unterstützung für Kinder gibt.
Gibt es weitere Pläne und Initiativen von UNICEF, so wie die "Tatort"-Unterbrechung?
UNICEF veröffentlicht immer wieder sowohl wissenschaftliche als auch praxisbezogene Publikationen, um Kinderrechte bekannter zu machen und für die Interessen von Kindern und Jugendlichen zu werben. Wir arbeiten mit Schulen, Kommunen und vielen Organisationen zusammen. Unsere Arbeit in Deutschland ist natürlich begrenzt, da die weltweiten Aufgaben noch viel größer sind. Aber ich glaube, wir werden auch in Deutschland jede gute Gelegenheit für die Stärkung der Rechte von Kindern wahrnehmen, die sich bietet.
Was für Initiativen unterstützt UNICEF in Deutschland?
- Initiative "Kinderfreundliche Kommunen": Ein gemeinsames mit dem Deutschen Kinderhilfswerk und über 50 großen und kleinen Kommunen in Deutschland. Hier werden Kinder und Jugendliche bewusst mit in die Projektarbeit einbezogen, beispielsweise werden sie dazu befragt, was aus ihrer Sicht an ihren Schulen fehlt. Daraus entsteht ein Aktionsplan, der vom Stadtparlament oder der Kommune verabschiedet wird, um diese Missstände zu beheben.
- Initiative zu Kinderrechte in Schulen: Hier werden Lehrerinnen und Lehrer im Bereich Kinderrechte geschult. Kinderrechte sollen angewandt und in den Alltag übernommen werden. Es geht darum, in einem gemeinsamen Prozess, bei dem auch Schülerinnen und Schüler mit eingebunden sind, herauszufinden, wo die eigenen Rechte möglicherweise betroffen sind oder sie nicht eingehalten werden.
- Kooperation mit dem Bundesfamilienministerium und Fachverbänden zum Schutz von Kindern in Unterkünften geflüchteter Menschen. Kinder sollen hier besonders vor Gewalt geschützt werden.
Zum Gesprächspartner
- Sebastian Sedlmayr leitet die Abteilung Advocacy und Politik bei UNICEF Deutschland. UNICEF setzt sich für die Rechte von Kindern weltweit ein – auch in Deutschland. Die Hilfsorganisation appelliert dafür an die Politik, dass Kinderrechte ins deutsche Grundgesetz aufgenommen werden, um so das Wohl der Kinder in den Mittelpunkt zu stellen.
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