Wettingen - Nur noch wenige Tage bis Weihnachten – und das Chaos ist perfekt. Die Kinder rennen lautstark durch die Wohnung, ein Glas kippt um, das Geschenkpapier fliegt durch die Gegend, und die Nerven liegen blank. "Müsst ihr hier so rumrennen? Könnt ihr euch nicht mal fünf Minuten benehmen? Ihr seht doch, was ich für einen Stress habe!" Die Worte werden lauter, schärfer, doch sie verhallen ungehört. Stattdessen wird das Spiel der Kinder noch wilder. Der Versuch, Ordnung zu schaffen, endet in Stress, Hektik und lauten Diskussionen.
So beschreibt die Schweizer Erziehungsberaterin Maren Tromm, was derzeit in vielen Familienhaushalten passiert. Sie weiß: Eltern haben dann oft das Gefühl, zu versagen, wünschen sich womöglich, dass die Feiertage einfach schnell vorbeigehen.
Doch warum drehen Kinder ausgerechnet jetzt so auf? Warum hören sie schlechter zu und rasten häufiger aus, obwohl wir uns so viel Mühe für sie geben? Tromm nennt vier Gründe, warum Kinder in der Advents- und Weihnachtszeit weniger hören und sich öfter danebenbenehmen.
1. Der Adventsstress trifft nicht nur uns Eltern
Im Dezember gibt es mit Kindern besonders viel zu tun. Plätzchen backen, Geschenke besorgen oder für die Großeltern basteln. All diese Aufgaben landen oft bei uns Erwachsenen. Doch auch für Kinder ist es eine große Herausforderung, Sei es durch Weihnachtsfeiern, Theater- oder Musikauftritte.
Der Alltag ist weniger vorhersehbar, Überraschungen stehen an jeder Ecke, und die Erwartungshaltung steigt "bei uns Erwachsenen ebenso wie bei den Kleinen", so die Autorin ("Erziehen ohne Schimpfen für Dummies"). "Kinder spüren unsere Unruhe, selbst wenn wir versuchen, uns nichts anmerken zu lassen. Sie nehmen die Anspannung wahr, die in der Luft liegt."
2. Die Magie der Erwartung – und ihr Druck
Ein weiterer Grund für das Verhalten: Die Neugier und Vorfreude auf Weihnachten ist riesig – aber auch die Unsicherheit. "Was bekomme ich?", fragen sich Kinder etwa. Oder auch: "War ich überhaupt brav genug?" - eine Frage, die in vielen Familien – oft unbewusst – immer noch thematisiert wird, berichtet Tromm. Kinder stehen so unter einem Druck, den sie meist gar nicht einordnen können. "Sie wissen nur: Da ist etwas Großes im Gange, und ich möchte alles richtig machen. Doch gerade dieser Druck führt oft zum Gegenteil."
3. Die Reizüberflutung
Lichterketten, Weihnachtsmusik, blinkende Deko – die Adventszeit ist eine Sinnesexplosion. Was uns oft "schön" erscheint, kann Kinder überfordern, erklärt Maren Tromm: "Gerade jüngere Kinder wissen oft nicht, wie sie mit so viel visueller und akustischer Stimulation umgehen sollen." Die Adventszeit bringt jedes Jahr eine Flut an neuen Eindrücken mit sich, die sie ohne Orientierung und Sicherheit schnell aus der Bahn werfen können.
4. Unrealistische Erwartungen der Erwachsenen
"Oft haben wir Eltern ein Bild von der perfekten Weihnachtszeit im Kopf. Friedlich, harmonisch, voller Lichterglanz. Doch die Realität sieht anders aus. Unsere Erwartungen an die Kinder sind oft zu hoch – sei es beim Benehmen, bei Geschenken oder beim Mitmachen von Weihnachtsritualen."
Tromm vergleicht die Wirkung dieser Zeit auf Kinder "mit einem Computer, der tausend Tasks offen hat – und stündlich kommen neue hinzu." In diesen Momenten greifen Kinder – wie auch Erwachsene – auf bekannte Bewältigungsstrategien zurück: Streiten, "übel drauf sein" oder Schimpfen. "Doch diese "Systemzusammenbrüche" bieten auch die Chance, innezuhalten, sich neu zu ordnen und den Kindern genau das zu geben, was sie brauchen: Klarheit, Struktur und ein Gefühl der Geborgenheit."
Wie Eltern Ruhe bewahren können
Maren Tromm gibt Eltern diese Tipps, damit Familien ruhiger und harmonischer die Festtagszeit erleben können:
- Verstehen statt zu bewerten: Kinder benehmen sich nicht "schlecht", um zu ärgern. Sie sind entweder überfordert oder verarbeiten Stress. Ein Schritt zurück und die Frage: "Was will mir mein Kind gerade sagen?" wirkt oft Wunder.
- Rituale schaffen: Gerade in turbulenten Zeiten geben feste Rituale Sicherheit. Ob Vorlesezeiten, gemeinsames Plätzchenbacken oder das Abendessen – diese Momente schaffen Ruhe und Struktur.
- Überraschungen reduzieren: Spontane Weihnachtsmärkte oder unvorhergesehene Besuche können stressig sein. Hier hilft gute Planung.
- Bewusste Entspannungszeiten einbauen: Sei es durch einen Spaziergang, eine Kuschelpause oder einfach eine heiße Schokolade – kleine Pausen helfen, den Alltag zu entschleunigen.
- Perfektion loslassen: Weihnachten muss nicht perfekt sein. Weniger ist oft mehr – für die Eltern wie für die Kinder.
- Kein Weihnachten ohne Streit. Streit gehört zum Leben dazu und jeder Streit ist auch eine wichtige Lerngelegenheit. Auch negative Gefühle dürfen sein. Wichtig ist für alle Beteiligten, gehört zu werden.
Tromms 5 Alternativen zum Schimpfen:
- Tief durchatmen: Das bewusste Atmen beruhigt das Nervensystem und hilft, innezuhalten.
- Gefühle spiegeln: Statt "Hör auf damit!" lieber sagen: "Ich sehe, dass du wütend bist. So ein Sonntag vor Weihnachten ist auch ganz schön aufregend."
- Humor einsetzen: Ein kleiner Scherz oder eine Grimasse entspannt die Situation oft schneller als ein lauter Ton.
- Positives betonen und umlenken: "Schön, dass du deine Energie beim Rennen rauslässt. Willst du lieber im Garten ums Blumenbeet oder dreimal in den Keller rennen?"
- Pausen nehmen: Wenn die Nerven blank liegen, kann eine kleine Auszeit helfen.
Zur Person: Maren Tromm ist diplomierte Erziehungs-, Einzel- und Paartherapeutin sowie diplomierte Psychosoziale Beraterin, Mutter von zwei Kindern. Im Podcast "Elternschokolade" spricht sie über den entspannten Familienalltag. © Deutsche Presse-Agentur
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