Was tun, wenn das eigene Kind zurückhaltender als andere ist? Manchmal müssen Eltern ihren Kleinen einen Schubs hinaus in die Welt geben - keine einfache Aufgabe.
Den Mutigen gehört die Welt, heißt es. Und so ganz unwahr ist die Kalenderweisheit nicht. Wer selbstbewusst auftritt, tut sich in vielen Situationen im Leben leichter. Dass ihre Kinder voller Selbstvertrauen und offen für Neues die Welt entdecken, wünschen sich deshalb auch die meisten Eltern. Und machen sich Sorgen, wenn ihr Sohn oder ihre Tochter sich nicht traut, mit anderen Kindern zu spielen, in unbekannter Umgebung an Papas oder Mamas Hosenbein klebt und schüchtern wegschaut, statt auf eine Frage zu antworten.
Doch Schüchternheit ist nichts, was sich nach Belieben an- und abschalten lässt, erst recht nicht für Kinder. "Es handelt sich um ein Persönlichkeitsmerkmal, damit wird man geboren", sagt Sabine Ahrens-Eipper. Sie ist Psychologin in Halle.
Lesen Sie auch: Deshalb sollten schüchterne Schüler in der Schule in die erste Reihe
Meist ist das Gefühl, ungern im Mittelpunkt zu stehen, der Mutter oder dem Vater durchaus vertraut: "Es gibt eine erbliche Komponente. Wenn ein Kind schüchtern ist, dann ist es oft auch ein Elternteil."
Neben den Genen spielt die Entwicklungsphase eine Rolle, in der ein Kind gerade steckt. "Lebensübergangsphasen sind oft mit Schüchternheit verbunden", erläutert Julia Asbrand, Professorin für Kinder- und Jugendlichenpsychologie und -psychotherapie an der Humboldt-Universität in Berlin.
Schüchternheit bei kleinen Kindern: Eltern zwischen Verständnis und Ermutigung
Wenn Babys mit sechs Monaten plötzlich ängstlich auf fremde Menschen reagieren, dann hängt das mit dem kognitiven Sprung zusammen, den sie gerade machen: "Das Kind realisiert, dass Menschen verschieden sind", sagt Asbrand.
Und das muss erst einmal verarbeitet werden - am besten auf dem sicheren Arm von Mama oder Papa. Auch der Start in der Kita, die Einschulung oder der Wechsel auf die weiterführende Schule sind Einschnitte, in denen viele Kinder zurückhaltend auf die neuen Lebensumstände reagieren.
Wie Eltern darauf angemessen reagieren, ist oft eine Gratwanderung zwischen Verständnis und Ermutigung - und damit eine ziemliche Herausforderung.
Soll man nachgeben, wenn der Sohn auf der Klassenfahrt Heimweh bekommt und abgeholt werden möchte? Soll man die Tochter, die nicht mehr zum Kinderturnen möchte, weil sie dort keine Freunde findet, trotzdem immer wieder hinschicken? Wann hilft der Satz "Trau dich" weiter? Und wann eine verständnisvolle Umarmung?
Kleine Schritte sind essenziell
Zunächst einmal gelte es, das Kind in seiner Wesensart zu akzeptieren: "Es gibt nun einmal extrovertierte und introvertierte Menschen", sagt Dorothea Jung von der Onlineberatung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung. Sie rät dazu, Kinder in kleinen Schritten zu unterstützen:
"Für kleinere Kinder gibt es beispielsweise Sport- oder Musikgruppen, bei denen die Eltern dabei sind. Die Kinder müssen sich dann nicht gleich allein in einer unbekannten Gruppe zurechtfinden."
Manchmal hilft auch der geschützte Rahmen des vertrauten Zuhauses: Im eigenen Kinderzimmer ist es möglicherweise leichter, Freundschaft mit der Klassenkameradin zu schließen als auf dem trubeligen Pausenhof. "Und wenn es dann schon mal einen Freund oder eine Freundin gibt, fühlen sich schüchterne Kinder oft auch in der Schule wohler."
Das sollten Eltern vermeiden
Manchmal sind es allerdings die Eltern selbst, die schüchterne Kinder zusätzlich bremsen - ganz unbewusst, weil sie selbst ähnlich veranlagt sind. "Sie können selbstbewusstes Verhalten dann nicht so gut vorleben und sind selbst eher vorsichtig, was soziale Situationen angeht", beobachtet Sabine Ahrens-Eipper.
Sie neigten außerdem dazu, ihre Kinder permanent vor möglichen Gefahren zu warnen, und trauten ihnen weniger zu. "Ich weiß nicht, ob du wirklich schon allein mit der Straßenbahn fahren kannst; Ich habe kein gutes Gefühl, wenn du allein bei deiner Kindergartenfreundin übernachtest": Solche Botschaften kommen an, auch wenn sie gar nicht ausgesprochen werden.
Ahrens-Eipper hat zusammen mit einer Kollegin ein Trainingsprogramm für schüchterne Kinder entwickelt: "Es ist immer möglich, Ängste zu überwinden, wenn man sie in kleinen Schritten angeht." Im Mittelpunkt steht der ganz und gar nicht mutige "Til Tiger".
Zusammen mit ihm sollen sich die Kinder Schritt für Schritt an Aufgaben herantasten, die ihnen eigentlich Angst einflößen: "Wichtig ist, dass sie stolz auf das sind, was sie schon geschafft haben, und nicht frustriert über das, was nicht geklappt hat", sagt Ahrens-Eipper.
Schüchternheit entsteht oft durch Sorgen und Ängste
Warum bestimmte Situationen schüchternen Kindern schwerfallen, welche Ängste sie hervorrufen, sei manchmal gar nicht so leicht herauszufinden: "Kleine Kinder können den Grund für ihre Befürchtungen oft noch nicht formulieren." Die Psychologin empfiehlt deshalb, weniger über die Ängste zu sprechen und mehr über vergleichbare Situationen, die gut gelaufen sind.
Viele schüchterne Kinder treibt die Sorge um, sie könnten von anderen Menschen negativ bewertet werden. Manchmal werden solche Ängste so groß, dass sie die Entwicklung bremsen, den Alltag und das Wohlbefinden beeinträchtigen. Dann ist professionelle Hilfe wichtig.
Rückzug ist ein Alarmzeichen
"Ein Alarmzeichen ist, wenn Kinder sich immer mehr zurückziehen, wenn sie jeden Morgen vor der Schule Bauchweh haben oder eigentlich gern einen Sport lernen würden, es aber nicht tun, weil sie dafür in einen Verein müssten", sagt Julia Asbrand, die an der Humboldt-Universität eine Spezialambulanz für Kinder und Jugendliche mit Angststörungen aufbaut.
Für die Entwicklung von Ängsten gebe es immer mehrere Faktoren: "Es ist nie nur Schüchternheit allein", sagt Asbrand. Dennoch hält sie es für wichtig, zurückhaltende Kinder immer wieder zu ermutigen, auch in Situationen hineinzugehen, die ihnen zunächst ein bisschen unangenehm sind: "Man muss ja nicht gleich mit einem Gedicht vor 100 Leuten auf der Geburtstagsfeier von Oma anfangen."
Zu fordern, ohne zu überfordern: Das sei wichtig. Und als Eltern dabei auszustrahlen: "Ich traue dir das zu." (spot/dpa)
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.