Zuerst Karriere, dann Kind: Immer mehr Frauen wollen sich erst jenseits der 35 ihren Kinderwunsch erfüllen. Woher kommt diese Entwicklung und wie sicher ist eine späte Schwangerschaft? Einblicke in medizinische Fortschritte, gesellschaftliche Trends und die Herausforderungen eines verschobenen Kinderwunschs.
Viele Frauen Ende 30 kennen diese Situation: Freundinnen und Kolleginnen haben schon vor einigen Jahren Kinder bekommen. Statt wie bei ihnen um den richtigen Schnuller oder die Eingewöhnung in der Kita drehte sich das eigene Leben im vergangenen Jahrzehnt aber vor allem um die Karriere, um Reisen und Selbstverwirklichung. Der Gedanke an Mutterschaft stand lange Zeit eher ganz hinten in der Lebensplanung. Doch dann ändert sich die Perspektive: Man wünscht sich doch noch ein Kind.
Späte Schwangerschaften durch veränderte Rollenbilder
Die Entscheidung, wann und ob man Kinder bekommen möchte, hat sich in den letzten Jahrzehnten für viele Frauen nach hinten verlagert. Statistiken zeigen, dass Frauen in Deutschland im Jahr 2023 bei der Geburt ihres ersten Kindes im Durchschnitt 30,3 Jahre alt waren. 1991 hatte das Durchschnittsalter laut Statistischem Bundesamt noch bei 26,9 Jahren gelegen.
"Wir sehen hier eine allgemeine gesellschaftliche Entwicklung", sagt Judith Bildau, Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. "Frauen definieren sich nicht mehr 'nur' über die Mutterrolle. Sie wollen in ihre eigene Bildung und Karriere investieren und streben auch eine eigene finanzielle Sicherheit an. Deshalb liegt der Fokus bei vielen Frauen in ihren 20ern und 30ern erst einmal auf ihrem beruflichen Weiterkommen." Die Folge: Auch die Erfüllung eines eventuellen Kinderwunsches verschiebt sich durch veränderte Rollenbilder und Karrierewege nach hinten.
Dazu kommen strukturelle Umstände, die dazu führen, dass viele Frauen sich zunächst gegen eine Schwangerschaft entscheiden. Die klassische Großfamilie, die sich gegenseitig bei der Kinderbetreuung unterstützt, ist selten geworden. Junge Paare leben häufig allein und tragen die Verantwortung für die Kinderbetreuung ohne familiären Rückhalt.
"Auch mangelnde Betreuungsmöglichkeiten beziehungsweise fehlende Kita-Plätze und natürlich die finanzielle Belastung spielen in dem Entscheidungsprozess eine Rolle", so Bildau. Erst wenn die Karriere gesichert und das Gehalt stabil ist, bedeutet das für viele Frauen die nötige Sicherheit, um ein Kind großzuziehen.
Viele Frauen schätzen die eigene Fruchtbarkeit falsch ein
Daneben sorgt der medizinische Fortschritt dafür, dass Schwangerschaften auch später im Leben deutlich risikoärmer sind als noch vor einigen Jahrzehnten. "Schwangerschaften und Geburten sind heute sicherer denn je – auch für ältere Mütter", erklärt die Expertin. Neue Screening-Tests können beispielsweise helfen, ein erhöhtes Risiko für Präeklampsie (Schwangerschaftsvergiftung) frühzeitig zu erkennen und vorbeugend zu behandeln. Auch genetische Auffälligkeiten beim Fötus lassen sich heutzutage nicht-invasiv diagnostizieren. Der technische Fortschritt hat somit dazu beigetragen, dass Frauen ihre Familienplanung flexibler gestalten können.
Was ist eine Schwangerschaftsvergiftung?
- Bei einer Präeklampsie handelt es sich um eine Erkrankung, die nur in der Schwangerschaft oder im Wochenbett auftritt. Sie geht häufig mit Bluthochdruck einher. Es sind aber auch andere Symptome, wie Störungen der Leber, der Niere, des Nervensystems und der Blutgerinnung möglich.
"Auch immer mehr Frauen, die chronisch erkrankt sind und denen vor einigen Jahrzehnten noch dringend von einer Schwangerschaft abgeraten worden wäre, können heute schwanger werden", sagt Bildau. Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse im Bereich der künstlichen Befruchtung und beim sogenannten "Social Freezing" tragen gleichzeitig dazu bei, dass Schwangerschaften auch für Frauen möglich werden, die auf natürlichem Wege nicht oder nicht mehr schwanger werden können.
Parallel zeigt sich jedoch, dass viele Frauen ihre eigene Fruchtbarkeit nicht richtig einschätzen. Die häufige Annahme, dass eine natürliche Schwangerschaft auch Ende 30 problemlos möglich ist, entspreche nicht immer der Realität, da die Eizellenqualität mit dem Alter abnimmt. "Untersuchungen zeigen, dass Frauen ihre Fruchtbarkeit eher 'überschätzen' – das heißt, glauben, dass sie auch Ende 30 problemlos natürlich schwanger werden können", erklärt Judith Bildau und warnt: "Ganz so einfach ist es dann aber unter Umständen nicht mehr."
Das liegt vor allem daran, dass die Zahl und Qualität der Eizellen im Lauf des Lebens immer weiter abnimmt: Während eine Frau bei der Geburt noch über circa ein bis zwei Millionen Eizellen verfügt, sind beim Einsetzen der Menstruation nur noch rund 300.000 bis 400.000 übrig. Aber reicht das nicht völlig aus, um schwanger zu werden? "Das klingt zwar so, aber mit der Freisetzung einer Eizelle pro Zyklus gehen auch etwa 1.000 unreife Eizellen verloren", so Bildau. Die Zahl der Eizellen nimmt also mit fortschreitendem Alter rapide ab.
Da die Zellen zusammen mit dem Körper der Frau altern, gibt es im Falle einer Schwangerschaft zudem auch eine Risikoerhöhung für Fehlgeburten und genetische Auffälligkeiten beim Ungeborenen, wie beispielsweise Trisomie 21 (Down-Syndrom). Medizinisch gesehen liegt das ideale Alter für eine Schwangerschaft zwischen 20 und 35 Jahren, da in dieser Zeit das Risiko für Komplikationen am geringsten ist. Bei Frauen über 35 steigen die Risiken für genetische Anomalien und schwangerschaftsbedingte Komplikationen wie Bluthochdruck oder Schwangerschaftsdiabetes. "Aus medizinischer Sicht ist eine Schwangerschaft zwischen 20 und 35 Jahren am sichersten", so Bildau.
Potenzielle Vorteile später Schwangerschaften
Eine späte Mutterschaft bringt jedoch auch Vorteile mit sich: Ältere Mütter haben in der Regel bereits persönliche und berufliche Ziele erreicht und treffen die Entscheidung für Kinder meist bewusst. "Ältere Mütter stehen finanziell häufig auf eigenen Beinen und sind dadurch unabhängig", erläutert Bildau.
Eine dänische Studie belegt, dass ältere Mütter oft geduldiger und weniger impulsiv in der Erziehung sind. Eine andere Untersuchung zeigt, dass ältere Mütter vermehrt in stabileren Partnerschaften und insgesamt in einer stabileren finanziellen Situation leben. Außerdem schneiden Kinder älterer Mütter laut einer Studie aus Großbritannien kognitiv besser in Tests ab, was möglicherweise mit der besseren finanziellen Situation der Eltern zusammenhängt, die den Kindern Zugang zu Bildungsressourcen bietet.
Dass vielen Frauen ab 30 oftmals von Fachleuten vermittelt wird, dass die Chancen auf eine Schwangerschaft für sie drastisch sinken würden, sieht Bildau aber auch kritisch. "Ja, es ist eine Tatsache, dass sich die weibliche Fertilität in den 30ern verringert. Studienergebnisse zeigen aber, dass heutzutage 2 von 3 Frauen zwischen 35 und 39 Jahren (rund 66 Prozent) innerhalb eines Jahres ohne medizinische Unterstützung spontan schwanger werden."
Zum Vergleich: Bei 25-jährigen Frauen lag die Wahrscheinlichkeit innerhalb eines Jahres schwanger zu werden laut der Studie bei rund 85 Prozent. Das zeigt, dass die Fruchtbarkeit zwar abnimmt, aber eine Schwangerschaft ohne medizinische Hilfe für den Großteil der Frauen in diesem Alter dennoch gut möglich bleibt.
Grundsätzlich spielen Lebensstilfaktoren dabei eine wichtige Rolle: Übergewicht, Rauchen, Alkoholkonsum und eine unausgewogene Ernährung können die Fruchtbarkeit erheblich beeinträchtigen. Eine gesunde Lebensweise mit ausgewogener Ernährung, regelmäßiger Bewegung und ausreichend Ruhephasen kann hingegen unterstützend wirken.
Für Frauen, die nach 35 schwanger werden möchten, hat die Expertin einen Rat: "Es ist wichtig, eine Schwangerschaft nicht nur aus einer rein medizinischen Perspektive und mit dem Fokus auf mögliche Risiken und Komplikationen zu betrachten. Jede Frau sollte ganz individuell und selbstbestimmt darüber entscheiden, wann für sie der richtige Zeitpunkt ist, Mutter zu werden. Genauso muss auch jede Frau ohne Erklärungen und Rechtfertigungen die Möglichkeit haben, sich dafür entscheiden können, keine Mutter zu werden."
Über die Gesprächspartnerin
- Dr. med. Judith Bildau ist Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtsmedizin, Expertin für Gendermedizin, Spezialistin für Hormonersatztherapie, Autorin sowie Unternehmensberaterin im Bereich der Mitarbeiterinnen-Gesundheit. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf der Verhütungsberatung für Frauen jeden Alters und der Beratung und Begleitung von Frauen in ihren Wechseljahren.
Verwendete Quellen
- bundesgesundheitsministerium.de: Nationales Gesundheitsziel
- destatis.de: Daten zum durchschnittlichen Alter der Eltern bei Geburt nach der Geburtenfolge für 1. Kind, 2. Kind, 3. Kind der Mutter und insgesamt 2023
- mdpi.com: Advanced Maternal Age: A Scoping Review about the Psychological Impact on Mothers, Infants, and Their Relationship
- Max-Planck-Institut für demografische Forschung: Happiness: Before and After the Kids
- Max-Planck-Institut für demografische Forschung: The reversing association between advanced maternal age and child cognitive ability: evidence from three UK birth cohorts
- National Library of Medicine: Changes with age in the level and duration of fertility in the menstrual cycle
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