Fast die Hälfte der Deutschen ist von Depression betroffen. Rund eine Hälfte davon als Erkrankte, die andere als Angehörige. Kinder, deren Eltern depressiv sind, haben dabei ein erhöhtes Risiko, selbst eine psychische Störung zu entwickeln. Im Gespräch mit unserer Redaktion berichtet die Forscherin und Psychologin Anna Georg von den Gründen und zeigt Ansätze auf, wie Familien damit umgehen.
Eine Depression betrifft nicht ausschließlich die erkrankte Person. Angehörige sind zwar eine wichtige Stütze für Betroffene, allerdings leiden auch sie unter den Folgen der Erkrankung. Rund drei Viertel der Angehörigen beschreibt die Depression laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention als große Belastung für das Familienleben.
Diplompsychologin Anna Georg legt bei ihrer Forschung ein besonderes Augenmerk auf Kinder, deren Elternteile unter einer Depression leiden. Sie entwickelt Ansätze, wie solchen Familien gezielt geholfen werden kann. Im Interview mit unserer Redaktion spricht sie über Probleme, Warnsignale und darüber, was für betroffene Familien entscheidend ist.
Laut der Deutschen Stiftung Depressionshilfe sind 45 Prozent der Deutschen von Depression betroffen: entweder direkt aufgrund einer eigenen Erkrankung (24 Prozent) oder indirekt als Angehörige (26 Prozent - 5 Prozent beides zur gleichen Zeit). Inwiefern sind Kinder als Angehörige betroffen?
Anna Georg: Kinder von einem depressiven Elternteil oder zwei depressiven Eltern haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, selbst an einer Depression zu erkranken, aber auch an anderen psychischen Störungen. Die Kinder scheinen anfälliger zu sein, emotionale Probleme oder Verhaltensprobleme zu entwickeln, darunter die Depression. Studien zeigen, dass etwa 68 Prozent der Kinder einer depressiven Mutter höhere Werte bei emotionalen und Verhaltensproblemen haben als Kinder einer nicht depressiven Mutter.
Was ist eine Depression?
- Eine Depression eine ernste Erkrankung, die das Denken, Fühlen und Handeln der Betroffenen erheblich beeinflusst. Sie kann auch mit Störungen von Hirn- und anderen Körperfunktionen einhergehen. Es handelt sich folglich nicht um ein vorübergehendes Stimmungstief - der Begriff wird im Alltag allerdings häufig falsch verwendet.
- Menschen, die an einer Depression erkrankt sind, können sich laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention selten allein von ihrer gedrückten Stimmung, Antriebslosigkeit und ihren negativen Gedanken befreien. Es gibt jedoch gute und effektive Möglichkeiten der medikamentösen und psychotherapeutischen Behandlung.
Ihre Forschung beschäftigt sich damit, wie sich depressive Eltern in ihr Kind hineinversetzen können. Sie sprechen vom elterlichen Mentalisieren bzw. Mentalisierungskompetenzen. Wie unterscheidet sich das bei einem depressiven Elternteil von einem Elternteil ohne Depression?
Elterliches Mentalisieren beschreibt die Kapazität von Eltern, sich die mentalen Zustände ihres Kindes – beispielsweise dessen Gefühle, Gedanken, Bedürfnisse –hineinzuversetzen. Das Konzept beinhaltet auch, dass ich mich als Elternteil mit mir auseinandersetze und mit meinen eigenen Emotionen, wenn ich mit meinem Kind interagiere oder wenn es zu Auseinandersetzungen kommt. Es geht darum, konstruktiv mit dem Kind umzugehen und auch schwierigere Gefühle zuzulassen.
Für eine Forschungsarbeit haben wir ganz viele Studien zusammengefasst, die sich mit der Frage beschäftigen, wie erhöhte Depressivität von Eltern mit ihren Fähigkeiten zusammenhängen, sich in ihre Kinder hineinzuversetzen. Das Ergebnis: Einige Funktionen innerhalb dieses Mentalisierens gelingen Eltern mit einer erhöhten depressiven Symptomatik nicht gut, andere schon.
Inwiefern beeinflusst diese Fähigkeit ihrer Eltern die Kinder?
Empirische Nachweise zeigen, dass Kinder von Eltern, die besser mentalisieren können, diese Kapazität selbst besser entwickeln und gesündere Beziehungen führen können. Sie sind häufiger sicher gebunden. Sie können besser mit ihren eigenen Gefühlen umgehen und mit den Herausforderungen, die das Leben mit sich bringt. Kinder entwickeln durch gutes Mentalisieren der Eltern wichtige, grundlegende Funktionen im Umgang mit sich und ihren Mitmenschen.
Bedeutet das im Umkehrschluss, dass man als Kind Muster eines depressiven Elternteils übernimmt?
Genau, wenn wir es jetzt andersrum betrachten: Eltern mit einer Depression haben in der Regel diese Kapazität des Mentalisierens nicht so ausgeprägt zur Verfügung. Das bedeutet, dass Kinder kein so zugängliches Gegenüber haben und möglicherweise dann häufiger selbst mit ihren schwierigen Gefühlen umgehen müssen und nicht so gut lernen, was in ihnen vorgeht und wie sie damit umgehen können. Das macht sie vermutlich auch anfälliger für die Entwicklung einer psychischen Erkrankung in ihrem späteren Leben.
Es dauert meist eine Weile, bis man sich eingestehen kann, dass man vielleicht depressiv ist oder eine Vorstufe einer Depression hat. Gibt es Anzeichen im Umgang mit Kindern?

Bei unserer Forschungsarbeit haben wir festgestellt, dass Eltern mit einer erhöhten depressiven Symptomatik eher dazu neigen, dem Kind negative Intentionen zuzuschreiben. Sie gehen häufiger davon aus, dass zum Beispiel die Eltern mit Absicht ärgert. Außerdem können sie ihm bei emotionalen Problemen oder bei Konflikten nicht so gut helfen, weil es schwerfällt, die Position des Kindes einzunehmen. Das könnten Anzeichen dafür sein, dass eigene mentale Schwierigkeiten sich auf die Beziehung zum Kind auswirken.
Dazu zählt natürlich auch eine generelle Erschöpfung, das Gefühl "Ich schaffe das nicht mehr". Oft fällt es betroffenen Eltern auch schwer, Freude aus dem Elterndasein zu ziehen, weil das Miteinander eher als belastend und anstrengend erlebt wird. Das könnten erste Anzeichen sein.
"Wenn Eltern depressiv sind, wirkt sich das auf ihr Verhalten gegenüber dem Kind aus. Man geht davon aus, dass das über die gesamte Kindheit Auswirkungen hat."
Laut Studien erkranken 17 Prozent der Mütter an einer postpartalen Depression nach der Geburt eines Kindes, aber auch 8 Prozent der Väter. Man erinnert sich allerdings nicht an seine ersten Lebensjahre – beeinflusst das kleine Kinder trotzdem?
Der aktuelle Forschungsstand sagt, dass sich in den ersten Lebensmonaten und -jahren ganz viel entwickelt. Das kann sich später durchaus verändern. Es gibt immer wieder Phasen mit erhöhter Neuroplastizität (wo neuronale Strukturen umgebaut werden, Anm. d. Red.), zum Beispiel in der Jugend. Aber in den ersten Lebensjahren entwickeln sich viele grundlegende Funktionen, unter anderem, wie wir mit unseren Gefühlen umgehen oder wie wir uns gegenüber anderen Menschen verhalten oder wie wir mit Stress umgehen.
Das heißt nicht, dass das für immer festgeschrieben ist, aber es wird eine Grundlage gelegt – auch wenn man sich nicht mehr bewusst an seine ersten Lebensjahre erinnern kann. Wenn Eltern depressiv sind, wirkt sich das auf ihr Verhalten gegenüber dem Kind aus. Man geht davon aus, dass das über die gesamte Kindheit Auswirkungen hat.
Die Deutsche Stiftung Depressionshilfe informiert zudem darüber, dass die Vererbung eine wichtige Rolle dabei spielt, ob jemand eine Veranlagung zu Depression hat oder nicht. Wer einen Elternteil mit Depression habe, habe selbst ein zwei- bis dreifach erhöhtes Risiko zu erkranken. Kann eine Depression also plump gesagt vererbt werden?
Ja, das ist korrekt. Es gibt eine Erblichkeit der Depression. Es ist gut untersucht, dass es eine genetische Disposition gibt, also Gene einen Teil des erhöhten Risikos erklären, auch an einer Depression zu erkranken. Aber das ist nur ein Faktor unter mehreren. Es spielen verschiedene Faktoren zusammen.
Das Ziel wäre natürlich, zu verhindern, dass Kinder von depressiven Eltern selbst psychische Krankheiten entwickeln. Was gibt es für Ansätze?
Erblichkeit und auch einige andere diskutierte Mechanismen sind Themen, die wir nicht im engeren Sinne therapeutisch beeinflussen können. Deswegen beschäftige ich mich gerne mit Faktoren, die wir durch psychologische oder psychotherapeutische Interventionen verändern können. Eltern können lernen, die Perspektive ihres Kindes einzunehmen oder sich in ihr Kind einzufühlen. Und in vielleicht besonders kritischen Momenten lässt sich der Umgang mit Konflikten trainieren.
Forschungen zeigen bereits einige gute Ansätze. Zum Beispiel sollte man bestenfalls nicht nur mit den betroffenen Eltern individuell, sondern gemeinsam mit Elternteil und Kind arbeiten. Es ist wichtig, einen Fokus auf das Miteinander zwischen Eltern und Kind zu legen. Dann kann man den Eltern in Bezug auf ihre psychischen Erkrankungen helfen und zusätzlich den Umgang zwischen ihnen und ihrem Kind verbessern.
Und im Kontext der postpartalen Depression, wenn die Kinder noch sehr klein sind, kann es wertvoll sein, auch mit dem Partner oder der Partnerin zusammenzuarbeiten. Aus meiner Erfahrung heraus sind Eltern, die sich in Therapie begeben, sehr motiviert etwas zu verändern und auch mit ihren Kindern zusammenzuarbeiten. Leider fehlt es derzeit noch an ausreichend Angeboten.
"Für Kinder ist es schwierig, wenn sie nur mitbekommen, dass bei ihren Eltern etwas nicht in Ordnung ist, die Eltern sehr mit sich selbst beschäftigt sind oder schnell an ihre Grenzen kommen."
Welche Themen kommen bei Eltern-Interventionen häufig zur Sprache?
Ein wichtiges Thema ist, wie man mit seinem Kind überhaupt darüber spricht, dass man eine psychische Erkrankung hat. Für Kinder ist es schwierig, wenn sie nur mitbekommen, dass bei ihren Eltern etwas nicht in Ordnung ist, die Eltern sehr mit sich selbst beschäftigt sind oder schnell an ihre Grenzen kommen. Es gibt zum Beispiel Kinderbücher, um Kindern die Depression zu erklären. Eine Einordnung der Krankheit in kindgerechter Form ist sehr wichtig. Hier kann es in der Therapie wichtig sein, Eltern darin zu begleiten, eine für sie und das Kind passende Form der Kommunikation zu entwickeln.
Ein Verhalten, das wir auch immer wieder sehen, ist die Parentifizierung - wenn Kinder eine verantwortliche Rolle für ihre Eltern einnehmen, die nicht altersadäquat ist. Das ist nicht gut für sie, auf jeden Fall nicht langfristig. Kurzfristig kann es etwas Stabilisierendes haben, wenn die Kinder dadurch beispielsweise einen Weg finden, mit ihrer Hilflosigkeit umzugehen. Aber es behindert die Bewältigung von in dem Alter typischen Entwicklungsaufgaben. Wir helfen Eltern dann, wieder zurück in die verantwortliche Rolle zu finden.
Für die Wirksamkeit der Therapie gilt: Es ist schon viel möglich und wir sehen besonders bei Eltern von kleinen Kindern oft überraschend schnelle Fortschritte. Andererseits gibt es auch klar weiteren Forschungsbedarf. Es gibt noch viel darüber herauszufinden, was genau depressiv erkrankten Eltern hilft, um ihnen auch in Bezug auf ihr Kind zu helfen.
Kann eine Familie nach einer schweren Zeit wegen einer Depression auch positiv aus ihr herausgehen?
Ja, davon bin ich überzeugt – mit oder ohne therapeutische Unterstützung! Es gibt verschiedene Faktoren, die hier eine Rolle spielen und manche Familien resilienter machen als andere. Beispielsweise ist die Bereitschaft, soziale Unterstützung anzunehmen und diese überhaupt auch verfügbar zu haben, wichtig. Wobei wir ganz klar wissen, wie wichtig für viele betroffene Eltern mit einer Depression auch eine psychotherapeutische Unterstützung ist. Das hilft für die Bewältigung der Depression und auch als Vorbereitung, falls sich erneut eine depressive Symptomatik bildet. Familiäre und auch soziale Unterstützung sind für Betroffene ganz wichtig.
Hilfsangebote
- Anlaufstellen für verschiedene Krisensituationen im Überblick finden Sie hier.
Über die Gesprächspartnerin
- Jun.-Prof. Dr. phil. Anna Georg ist Diplompsychologin und approbierte psychologische Psychotherapeutin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene (Tiefenpsychologisch-fundierte Psychotherapie). Seit 2024 fungiert sie als Sektionsleitung Parent-child interactions in families at risk am Universitätsklinikum Heidelberg, seit 2024 leitet sie den Arbeitsbereich Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität Tübingen.
- Für ihre Studie über die sogenannte Mentalisierungsfähigkeit der Eltern ist die Forscherin in der Kategorie "Postdoc" mit dem Wilhelm-Bitter-Forschungspreis 2024 ausgezeichnet worden.
Verwendete Quellen
- Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT) e.V.: "Wie geben Eltern eine Depression an ihre Kinder weiter? Forschungspreis 2024 für psychoanalytische Arbeiten"
- Pressemitteilung der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention: "Studie: Depression betrifft die ganze Familie"
- Georg A.K. et al. (2024): Is parental depression related to parental mentalizing? A systematic review and three-level meta-analysis. Clinical Psychology Review, 104.
Redaktioneller Hinweis
- Die Informationen in diesem Artikel ersetzen keine persönliche Beratung und Behandlung durch eine Ärztin oder einen Arzt.