Seit drei Wochen weiten Israels Bodentruppen ihre Anti-Terror-Einsätze im Gazastreifen aus. Seither spricht die Armee von zahlreichen Erfolgen. Doch der schwierigste Teil könnte erst noch bevorstehen.
Aus Sicht Israels läuft im Krieg gegen die islamistische Hamas im Gazastreifen alles nach Plan. "Wir sind kurz davor, das militärische System im nördlichen Gazastreifen zu zerschlagen. Es bleibt zwar noch einiges zu tun, aber wir sind auf dem besten Weg", sagt Generalstabchef Herzi Halevi bei einem Truppenbesuch in dem etwa 40 Kilometer langen Küstenstreifen – und kündigt an, "immer mehr Regionen ins Visier" zu nehmen. Experten erwarten, dass schon bald auch im Süden am Boden gekämpft werden könnte.
In der nördlichen Stadt Gaza, wo vor dem Krieg Hunderttausende Menschen lebten, erscheint die Hamas bereits geschwächt. So hissten israelische Soldaten demonstrativ israelische Flaggen am Strand und fotografierten sich im Parlamentsgebäude. Das Militär berichtet von nützlichen Informationen für die Geheimdienste, Tausenden getöteten Terroristen und eingenommen Hamas-Hochburgen – darunter auch Krankenhäuser mit "versteckten Kommandozentralen" der Terroristen. Doch die Erfolge könnten erst der Anfang eines langen Einsatzes der israelischen Bodentruppen sein.
Experte: Tunnelsystem der Hamas entscheidend
Die Terrororganisation Hamas habe im Norden des Gazastreifens größtenteils über der Erde die Kontrolle verloren, "aber bis zur Eliminierung der gesamten militärischen Kapazität" sei es noch ein langer Weg, sagt Harel Chorev, Nahostexperte an der Universität Tel Aviv. Ein entscheidender Faktor sei das weitreichende Tunnelsystem der Hamas.
Tausende Terroristen der Hamas könnten sich in dem verzweigten Tunnelnetz verschanzt haben. Es wird auf rund 500 Kilometer Länge geschätzt. Eine Flucht von zahlreichen Terroristen vom Norden in den Süden sei wahrscheinlich, sagt Chorev.
Mehr als 300 Tunnelschächte sowie verschiedene unterirdische Standorte sollen vom Militär bereits zerstört worden sein. "Unser besonderes Augenmerk gilt dem, was sich im Untergrund befindet", sagte Militärsprecher Daniel Hagari am Donnerstag.
Methoden zur Zerstörung der Tunnelstruktur gebe es neben Luftangriffen viele, sagte Orbach. "Man kann die Tunnel fluten, etwa mit Meer- oder Abwasser." Zudem habe das Militär spezielle Roboter, in die zum Teil bis zu 80 Meter tiefen Schächte vorgeschickt werden. Auch Hunde seien im Einsatz.
Geisel werden in Tunneln vermutet
Das größte Problem sei jedoch die Geisel-Frage. Zumindest ein Teil der rund 240 am 7. Oktober von Hamas-Terroristen entführten Menschen wird von der Armee in den Tunneln vermutet.
Wie viele Hamas-Mitglieder im Untergrund versteckt sind, ist unklar. Militärhistoriker Danny Orbach von der Hebräischen Universität in Jerusalem schätzt: mehrere Tausende. Vor Kriegsbeginn am 7. Oktober soll es dem israelischen Militär zufolge rund 30.000 Hamas-Terroristen gegeben haben. Mehr als 4.000 sind laut israelischen Schätzungen seither getötet worden. Aus palästinensischen Quellen gibt es dazu bisher keine Angaben.
Tunnelkämpfe bergen hohes Risiko
Mit unmittelbar bevorstehenden Kämpfen in den Tunneln rechnet Orbach eher nicht. "Das israelische Militär wird dies nur in Einzelfällen in Erwägung ziehen, in denen es keine andere Möglichkeit gibt", sagt Orbach. Es gebe eine extra für diesen Fall trainierte Spezialeinheit. "Tunnelkämpfe bergen aber ein sehr hohes Risiko." Es gebe kein GPS in den Tunnel, nur wenig Licht, Schüsse könnten von den Wänden abprallen und die Soldaten selbst treffen.
Zudem seien die Tunnel das Terrain der Hamas. "Sie haben sich wahrscheinlich Jahre auf dieses Szenario vorbereitet", sagt Orbach. Die israelischen Soldaten wurden nach seinen Worten schon über der Erde mit Sprengstofffallen an Türen, Fenstern und an Tunneleingängen konfrontiert. "In den Tunneln könnte das noch extremer werden." Vergangene Woche wurden vier Soldaten einer Spezialeinheit durch einen Sprengsatz an einem Tunnelschacht getötet.
Gleichzeitig wisse das Militär, dass die Hamas nicht "unendlich lange unter der Erde bleiben" könne. Nahrungsmittel und Treibstoff würden irgendwann ausgehen. "Tunnel können nicht mehr beleuchtet oder belüftet werden." Ob und wie viel Nachschub etwa aus Ägypten über die Tunnel nach Gaza geschmuggelt werden könnte, sei schwer zu sagen. "Schmuggel zur jetzigen Zeit ist sehr riskant, aber wahrscheinlich eingeschränkt in kleinen Mengen möglich", vermutet Orbach. "Wenn sie nicht bereits über die Tunnel nach Ägypten geflohen sind."
Verlagerung der Kämpfe nach Süd-Gaza?
Auch eine Verlagerung der Kämpfe in den Süden des Gazastreifens halten Orbach und weitere Beobachter für wahrscheinlich. Ziel des israelischen Militärs sei es, die Hamas so stark zu schwächen, dass sie von innen heraus zusammenbricht, sagt Orbach. Dafür müsse nicht jedes einzelne Mitglied getötet werden. Es müsse aber vermieden werden, dass die Terrororganisation andernorts wieder erstarken kann – etwa in Chan Yunis, einer Stadt im Süden des Küstenstreifens.
In dieser Woche warf das israelische Militär über Chan Yunis bereits Flugblätter auf Arabisch ab. Die Menschen sollten sich in "die bekannte sichere Zone" begeben. Nach Angaben örtlicher Medien brach unter den Einwohnern der betroffenen Viertel Panik aus.
Knapp 1,6 Millionen der rund 2,2 Millionen Einwohner des etwa 40 Kilometer langen Küstengebiets sind nach UN-Angaben infolge der Kämpfe auf der Flucht. Die meisten davon zogen aus dem Norden in Richtung Süden. Doch auch dort kommt es regelmäßig zu Luftangriffen. Ein mögliche Bodenoffensive könnte dort die ohne verheerende humanitäre Notlage noch verschärfen.
Dass ein Bodeneinsatz auch im Süden ansteht, daran zweifelt Orbach nicht. "Israel will nicht, dass es sich die Hamas im Süden zu bequem macht", sagt er. Generell sei nicht mit einem baldigen Ende des Kriegs zu rechnen. "Die Intensität wird sich verändern, die Kämpfe könnten aber noch Monate dauern." Wohin sie sich verlagerten, bleibe abzuwarten. (dpa/tas)
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.