Vor wenigen Tagen hat der Islamische Staat erneut Chemiewaffen gegen seine Gegner eingesetzt. Der Politologe Florian Wätzel spricht von einer "weiteren Eskalation" im ohnehin schon brutalen Krieg. Über welche Waffen verfügen die Dschihadisten eigentlich und welche Gefahr geht von ihnen aus?

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Lange wurde darüber spekuliert, nun gibt es erneute Belege, dass auch der Islamische Staat Chemiewaffen einsetzt. Nach Medienberichten haben die Dschihadisten am vergangenen Freitag die syrische Kleinstadt Marea mit Artilleriegeschossen bombardiert die mit Senfgas bestückt waren. Rote Augen, dicke, gelbe Blasen auf der Haut und Atemprobleme – diese Symptome lassen auf den Einsatz chemischer Kampfstoffe schließen, wie "Spiegel Online" berichtete.

Im Jahr 2015 ist das syrische Regime um den Diktator Baschar al-Assad demnach nicht mehr die einzige Kriegspartei, die über die international geächteten Waffen verfügt. Der IS hatte Chemiewaffen in diesem Jahr bereits in Reichweite der nordirakischen Stadt Erbil, in deren Nähe auch Bundeswehr-Ausbilder stationiert sind, und in Syrien eingesetzt. Der jüngste Angriff geschah ausgerechnet am zweiten Jahrestag des Giftgasanschlags auf Damaskus. 2013 waren Hunderte Menschen durch Saringas, das offenbar durch Assad-Getreue abgeschossen wurde, ums Leben gekommen. "Die Angriffe des IS mit Senfgas gegen kurdische Peschmerga oder jüngst in Syrien stellen eine weitere Eskalation dar", sagt der Politikwissenschaftler Florian Wätzel vom Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel.

Mit herkömmlichen Waffen gut ausgerüstet

Pistolen, Gewehre, Artilleriegeschosse, Panzerabwehrraketen, Panzer: Auch mit herkömmlichen Waffen sind die Kämpfer des Islamischen Staats gut ausgerüstet. Als besonders wirkungsvoll erwiesen sich laut Wätzel mit Sprengstoff bestückte und von Selbstmordattentätern gesteuerte Fahrzeuge. "Die werden von irakischen und kurdischen Sicherheitskräften als große Gefahr betrachtet, weil sie nur schwer zu stoppen sind", erklärt der Experte.

Bei ihrem Eroberungsfeldzug, der im Juni 2014 begann, haben die Kämpfer zahlreiche syrische und irakische Waffenlager ausgehoben und Beute gemacht. Darunter von Saudi-Arabien an die Freie Syrische Armee gelieferte Panzerabwehrraketen, amerikanische Munition und russische Waffen. Auch über die türkische Grenze sollen angeblich Waffen an den IS geliefert worden sein. Laut Florian Wätzel ist das aber "nicht sicher geklärt". Eine Untersuchung des Londoner Netzwerks "Conflict Armament Research" (CAR) kam 2014 zu dem Ergebnis, dass Geschosse aus mindestens 21 Ländern von den IS-Kämpfern eingesetzt wurden, einige Kugeln sogar aus deutscher Produktion. Diese befanden sich in geplünderten Lagern in Syrien und dem Irak.

Das Geld für die Waffenbeschaffung kommt hauptsächlich aus dem Verkauf von Öl und Antiquitäten, Plünderungen, Schutzgeldzahlungen und Steuereinnahmen sowie Menschenhandel. "Möglicherweise erhält der IS auch Gelder von religiösen Stiftungen und Privatleuten aus der Golfregion", vermutet Florian Wätzel.

Expertise und Material für großen Chemiewaffen-Anschlag fehlen

Zum großen Schlag mit Chemiewaffen sind die Dschihadisten offenbar noch nicht in der Lage – auch Wätzel hält das für "unwahrscheinlich". Der IS besitzt keine Luftwaffe oder größere Raketen, der logistische Aufwand wäre enorm. Zudem sind Senfgas und Chlorgas, über das die Dschihadisten durch die Eroberung von Chemiewaffen-Restbeständen verfügen, nicht so gefährlich wie die tödlichen Stoffe Sarin oder VX. Sie führen "nur" zu Atemwegsproblemen, Senfgas kann starke Verbrennungen hervorrufen. Ein Grund für Entwarnung ist das nicht: In den Reihen der selbsternannten Gotteskrieger befinden sich zahlreiche ehemalige Militärs von Saddam Hussein. Der frühere irakische Diktator war berüchtigt für seine Chemiewaffeneinsätze: 1988 wurden beim schlimmsten Angriff 3.000 bis 5.000 Menschen getötet. Die Expertise für einen großangelegten Einsatz ist vermutlich vorhanden.

Durch die schon erfolgten Angriffe des IS dürfte die Hemmschwelle auch auf Seiten Assads weiter gesunken sein, solche Waffen erneut einzusetzen. Schließlich könnte man immer behaupten: Der IS war es. Langfristig hat der Chemiewaffeneinsatz laut Beobachtern die Gefahr erhöht, dass der schon brutal geführte Krieg noch erbarmungsloser werden könnte. "Ich gehe jedoch nicht davon aus, dass der IS durch den Einsatz von Chemiewaffen einen entscheidenden strategischen Vorteil erhält", erklärt Florian Wätzel. "Die Organisation nutzt die Waffe eher als ein weiteres Mittel, um seine Gegner zu terrorisieren." Zumindest in der psychologischen Kriegsführung hat sie den Dschihadisten einen Vorteil verschafft.

Zur Person: Florian Wätzel ist Politikwissenschaftler am Institut für Sicherheitspolitik der Universität Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sicherheitspolitik im Nahen und Mittleren Osten, neue Kriege und asymmetrische Konflikte, Terrorismus sowie die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik.

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