Eine neue Studie offenbart das ganze Ausmaß von Stasi-Entführungen in der Bundesrepublik: Hunderte Menschen verschwanden während der deutschen Teilung in DDR-Haft. Doch das war nur eine von vielen Methoden der Staatssicherheit. Ihre Mitarbeiter überwachten, erpressten – und schreckten auch vor Mord nicht zurück.
Bevor Otto Krüger am Abend dieses 1. Dezember 1954 die San-Francisco-Bar verlässt, bestellt er sich noch einen letzten Drink an der Bar. Eine fatale Entscheidung, wie er schon kurz darauf merkt. Erst versagen Krüger die Beine, dann verliert er das Bewusstsein. Zuletzt spürt er, wie sich jemand bei ihm unterhakt, ihn in ein Taxi bugsiert. Später, am Ende einer langen Fahrt durch das geteilte Berlin, findet er sich in einer Haftanstalt im Osten der Stadt wieder. Krügers vermeintliches Verbrechen: Der ehemalige SED-Funktionär war aus der DDR in den Westen geflohen.
Entführt von Mitarbeitern der Stasi – der Fall Otto Krüger ist nur einer von vielen, die Susanne Muhle in ihrer neuen Studie auf mehr als 600 Seiten beschreibt. Das Werk erscheint dieser Tage unter dem Titel "Auftrag: Menschenraub" und zeigt, wie das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) gezielt West-Berliner und Bundesbürger entführen ließ. Muhle konnte dafür die Namen von rund 400 Menschen zusammentragen, die in den Jahren 1949 bis 1989 entführt wurden. Die Autorin überraschte selbst, wie schnell die Stasi eingriff: "Manchmal reichte ein Verdacht schon aus", erzählt sie.
Nach Gründen suchte die Behörde nicht lange: Verdächtig waren Männer und Frauen, die aus der DDR in den Westen geflohen waren – vor allem wenn sie zuvor der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), der Volkspolizei oder gar dem MfS selbst angehört hatten; Bürger, die für antikommunistische Organisationen oder westliche Geheimdienste aktiv waren; Journalisten, die das Unrecht der DDR anprangerten; kurzum: Menschen, die sich gegen den Osten engagierten Die Entführten verschwanden für Tage, Wochen, Monate oder Jahre in DDR-Haft – manche kehrten nie zurück.
In rund 240 Fällen verschleppte die Stasi die Menschen direkt auf DDR-Gebiet. "Sie wurden zuvor unter einem Vorwand in die DDR gelockt, etwa mit einem fingierten Telegramm, dass dort ein Familienangehöriger verunglückt sei", erklärt Muhle. In etwa 100 Fällen griff die Staatssicherheit hingegen gewaltsam im Westen ein: "Die Stasi plante detailliert und bereitete die Aktionen akribisch vor. Ihre Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) waren nicht nur ein Rädchen im Getriebe, sondern hatten durchaus Handlungsspielraum und machten mitunter sogar selbst Vorschläge für Entführungen." Manchmal überwachten die IM eine Person gar über Jahre, spionierten ihr Umfeld aus – und schlugen dann zu.
Die Motive der Stasi zeichnen einmal mehr das Bild eines Staates, der nach der totalen Kontrolle trachtete. Die Aktionen sollten Geflohene bestrafen sowie Geheimdienste und andere Organisationen schwächen. "Die Entführungen waren vor allem eine Machtdemonstration. Die Stasi zeigte damit, wozu sie in der geteilten Stadt fähig ist – ohne dass der Westen etwas dagegen tun konnte. Zugleich dienten die Entführungen der Abschreckung – sowohl nach außen als auch gegenüber Abtrünnigen in den eigenen Reihen. Ihnen sollte vor Augen geführt werden, dass sogenannte Verräter erbittert verfolgt werden", sagt Muhle.
Mordanschläge mit Bomben, Scharfschützen und Giften
So schonungslos dieses Vorgehen der Stasi klingt, es war nicht die drastischste Maßnahme, um die Macht des Staates zu sichern. Denn dafür schreckte sie nicht einmal vor Mord zurück. Das zeigen Aktenfunde im Archiv der Stasi-Unterlagen-Behörde (BStU). Zwar reichen die Beweise aus juristischer Sicht bisher nicht aus, um der Staatssicherheit eine abgeschlossene Ermordung im Westen nachzuweisen. Doch die Dokumente zeugen von detaillierten Plänen und gescheiterten Mordversuchen.
Um die "ideologischen Feinde" – ehemalige Mitarbeiter, Fluchthelfer oder politische Dissidenten – zu beseitigen, waren der Stasi viele Mittel recht. Drei Mal versuchte sie, den Fluchthelfer Wolfgang Welsch umzubringen. Nachdem schon eine Bombe und ein Scharfschütze gescheitert waren, mischt ein Stasi-Mann bei einem Israel-Urlaub 1981 das giftige Schwermetall Thallium unter die Buletten der Familie. Mehrere Wochen kämpft Welsch gegen den Tod, dann steht fest, dass er die Vergiftung überlebt. Nur ein Jahr später entgeht auch Kay Mierendorff nur knapp einem Anschlag. Er hatte ebenfalls hunderte Menschen aus der DDR in den Westen geschleust. Die Stasi schickt ihm deshalb 1982 eine Briefbombe – Mierendorff und seine Frau überleben schwer verletzt.
Bis heute ist die Rolle der Stasi bei Bernd Moldenhauer und dem Fußballprofi Lutz Eigendorf nicht endgültig geklärt. 1980 erdrosselte ein IM den DDR-Kritiker Moldenhauer auf einem Rastplatz, ein Stasi-Auftrag ist jedoch nicht erwiesen. Ähnlich umstritten ist der Fall Eigendorf: Fest steht, dass die Stasi den 1979 in die BRD geflohenen Fußballer im Visier hatte. Ob sie seinen tödlichen Autounfall 1983 vorsätzlich verursachte, ist jedoch bis heute offen.
Überwachung aller sozialer Schichten
Rund 91.000 hauptamtliche Mitarbeiter und noch einmal 189.000 inoffizielle überwachten und bespitzelten 1989 für die Stasi. Ihre Arbeit zog sich durch alle sozialen Schichten und Altersgruppen. Der wohl berühmteste Spion war Günter Guillaume, der sich das Vertrauen von Bundeskanzler Willy Brandt erschlich, was diesen 1974 das Amt kostete. Laut einer Studie der Freien Universität hatte es die Stasi in West-Berlin besonders auf Polizisten abgesehen. Im großen Stil erfasste sie bis Ende der 1980er Jahre rund 80 Prozent von ihnen namentlich. Oft kamen sogar private Infos wie Adresse oder Kontostand hinzu. Ebenso beliebt: Universitäten. Hier konnte die Stasi Forschungsergebnisse abgreifen und neue Spitzel anwerben.
Erst die Liebesaffäre – dann die Erpressung
Ihre Informationen nutze die Behörde auch, um Personen zu erpressen – wie etwa Heinrich Lummer erleben musste. Das MfS hatte eine junge Frau – Deckname "Susanne Rau" – auf den CDU-Politiker aus West-Berlin angesetzt, um ihn in eine Affäre zu verwickeln. Der Plan: Mit kompromittierendem Material sollte Lummer unter Druck gesetzt werden. Obwohl der Politiker die Agentin regelmäßig traf, mehrmals nach Ost-Berlin fuhr und dort sogar von Agenten angesprochen wurde, scheiterte der Stasi-Plan. Lummer widerstand und brach alle Kontakte ab.
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