Im Prozess um den gewaltsamen Tod der Studentin Tugce Albayrak erzählen die Zeuginnen den vorangehenden Konflikt mit dem mutmaßlichen Täter unterschiedlich. Und das ist nicht der einzige Widerspruch. Solch ein Zeugenverhalten sei nicht untypisch, erklärt ein renommierter Strafrechtler. Es kann sogar bis zum Freispruch führen.

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Der Name Tugce Albayrak wird wohl immer synonym für Zivilcourage stehen. Die Geschichte der jungen Lehramtsstudentin sorgte in Deutschland für tiefe Trauer und Bestürzung. Am frühen Morgen des 15. November 2014 wurde sie vor einem Schnellrestaurant in Offenbach niedergeschlagen, als sie offenbar bedrängten jungen Frauen zu Hilfe eilen wollte. Sie starb wenige Tage später an ihren schweren Schädel- und Hirnverletzungen - mit gerade einmal 23 Jahren.

Doch was geschah wirklich an jenem Morgen? Wer provozierte wen? Und unter welcher Motivation kam es zur Attacke?

Zeugen verstricken sich in Widersprüche

Der Prozess gegen den mutmaßlichen Täter Sanel M. vor dem Landgericht Darmstadt soll Antworten liefern und der Justiz ein zweifelfreies Urteil ermöglichen. Eigentlich. Denn schon in den ersten Tagen wird deutlich: Die Zeugen verstricken sich in Widersprüchen.

Dies sei nicht unüblich, erklärt der Strafprozessrechtsexperte Helmut Frister. Der Düsseldorfer Universitätsprofessor kennt ähnliche Beispiele zur Genüge.

"Die Hauptverhandlung findet eben nicht am darauffolgenden Tag statt, sondern einige Monate später. Da ist natürlich das Problem, dass sich eine solche Zeugenaussage im Laufe der Zeit verändern kann", sagt der 58-Jährige im Gespräch mit unserem Portal. Zeugen erinnern sich nicht mehr an alle Einzelheiten; das, was man selber wahrgenommen hat, vermischt sich mit dem, was man von anderen erzählt bekommt; Aussagen werden dadurch beeinflusst, welche Fragen gestellt werden. "So decken sich Aussagen vor Gericht und vor der Polizei nicht notwendigerweise", schildert er.

Oft würden Zeugen vor Gericht aber auch schlicht lügen. "Das ist gar nicht selten", nennt der Universitätsdozent eine weitere Erklärung für unterschiedliche Zeugenaussagen zu ein und demselben Fall. "Oder es fließt mit ein, was man gar nicht wahrgenommen hat, was einem von anderen eingeredet wurde. Dann hält man das hinterher durchaus für die eigene Wahrnehmung", schildert er.

"Die Leute lügen dann nicht unbedingt. Sie denken tatsächlich, dass sie etwas so gesehen haben, obwohl es in Wahrheit vielleicht aus irgendeinem Zeitungsbericht stammt."

Widersprüche lassen sich nicht ausschließen

Eine erste Aussage wird immer vor der Polizei gemacht. Bestenfalls unmittelbar nach dem Tathergang. Doch schon da ließen sich Fehler und Widersprüche nicht ausschließen, erklärt Frister. "Die Polizei hat ein bestimmtes Interesse daran, eine Tat aufzuklären. Da gibt es auch unter Umständen Ermittlungsdruck, das Bestreben, einen Täter zu präsentieren", erzählt er. Entsprechend würden gegebenenfalls die Fragen gestellt und Antworten ausgelegt. "Alle Strafverfolger sind nur Menschen. Sie können sich nicht von jeglichen Einflüssen freimachen. Ihr Bemühen hat menschliche Grenzen."

Entscheidend ist dann aber, wie in der Hauptverhandlung während eines Prozesses ausgesagt wird. Wenn sich die Zeugen so sehr widersprächen und auch keine weiteren Beweise, zum Beispiel Videoaufnahmen oder Fingerabdrücke, eine Tat eindeutig belegten, seien Freisprüche selbst bei dringenden Verdachtsmomenten möglich. "Das kann theoretisch alles passieren. Das Gericht hat sich im deutschen Strafprozess auf der Grundlage der Hauptverhandlung eine Überzeugung zu bilden", erklärt er.

"Das heißt, ob der Angeklagte eine Tat begangen hat oder nicht." Das Gericht habe während einer Verhandlung zwar die Möglichkeit, eventuellen Erinnerungslücken der Zeugen dadurch nachzuhelfen, dass Aussagen aus dem Ermittlungsverfahren vorgehalten werden. Doch im Zweifel obliegt es dem Gericht festzustellen, welches die seiner Überzeugung nach richtige Version sei - auch hier seien Fehler nicht ausgeschlossen. "Wenn das Gericht das aber nicht herausfinden kann und sagt, es bleiben Zweifel und wir wissen nicht, welche Aussage richtig ist, dann hat es im Zweifel für den Angeklagten zu entscheiden."

Prof. Dr. Helmut Frister ist Lehrstuhlinhaber für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Juristischen Fakultät der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf. Der 58-Jährige wurde 2007 für seine Forschungen mit dem "Reinhard-Heynen- und Emmi-Heynen-Preis" ausgezeichnet.
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