Kurz vor dem Start des Prozesses im Missbrauchsfall Lügde sorgen Medienberichte für Aufruhr: Der mutmaßliche Haupttäter wurde schon vor 20 Jahren aktenkundig und hätte gestoppt werden können.
Auf dem Campingplatz in Lügde an der Landesgrenze von Nordrhein-Westfalen zu Niedersachsen sollen über Jahre hinweg mehr als 40 Kinder schwer sexuell missbraucht worden sein. Die Anklage wirft einem 56 Jahre alten Hauptverdächtigen Andreas V. 298 Fälle vor.
Zudem gibt es massive Kritik an den beteiligten Behörden wie Polizei und Jugendamt aus Lippe. Missbrauchshinweise sollen zwar gemeldet, aber nicht weiterverfolgt worden sein. Zudem verschwand aus einem Raum des Kriminalkommissariats Lippe wertvolles Beweismaterial: ein Alukoffer und eine Hülle mit 155 Datenträgern.
Anzeige gegen Hauptverdächtigen schon vor 20 Jahren
Nun haben Recherchen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung ergeben, dass Andreas V. bereits vor 20 Jahren aktenkundig wurde. Und auch damals verfolgten die Behörden konkrete Hinweise auf Sexualstraftaten nicht.
Ein damals vierjähriges Mädchen urlaubte 1998 mit ihrer Mutter auf dem Campingplatz von Lügde - und kam damals wie viele andere Kinder in Kontakt mit Andreas V.
Nachdem das Mädchen eines Tages seiner Mutter nach einem Besuch bei dem Hauptverdächtigen erzählte: "Mama, Penis lecken schmeckt nicht", alarmierte diese den Platzwart des Campingplatzes. Der habe sich, so die Aussage der Mutter, das nicht vorstellen können und beteuert, "für Addy würde er seine Hand ins Feuer legen".
Erst im Jahr 2000, also zwei Jahre später erstattete die Frau Anzeige bei der Polizei. Allerdings verdächtigte sie ihren Ehemann, sich an der Tochter vergangen zu haben. Bei der Polizei erwähnte sie den Vorfall mit "Addy" auf dem Campingplatz dennoch, in ihrer handschriftlichen Anzeige stand ebenfalls der verräterische Satz des Mädchens: "Mama, Penis lecken schmeckt nicht."
Staatsanwalt rechtfertigt ausbleibende Ermittlungen
Während die Polizei damals gegen den Vater ermittelte, blieb Andreas V. von weiteren Untersuchungen verschont. Die Frage nach dem Warum beantwortet Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer von der Staatsanwaltschaft Köln.
Gegenüber den recherchierenden Medien sagte er: "Nur wenn ein Anfangsverdacht wegen einer Straftat vorliegt, darf die Staatsanwaltschaft Ermittlungen aufnehmen. Und die vagen Vermutungen, die die Mutter zunächst mal in Richtung des Unbekannten vom Campingplatz geschildert hat, haben eben aus Sicht der Staatsanwaltschaft nicht ausgereicht, um eben diesen Anfangsverdacht zu begründen."
Vater erstattete ebenfalls Anzeige - was wurde aus dem Verfahren?
Noch bestürzender: Zwei Jahre später gab es eine weitere Anzeige. Auch der Vater des Mädchens beschuldigte nun Andreas V. des sexuellen Missbrauchs an seiner Tochter, der Fall wurde offiziell aktenkundig und an die Staatsanwaltschaft Detmold weitergeleitet. Allerdings folgenlos. Was aus dem Verfahren wurde, dazu äußerte sich die Detmolder Behörde auf Anfrage bislang nicht.
NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) sagte gegenüber NDR, WDR und SZ: "Ich bin da fassungslos. Was aus diesen weiteren Hinweisen in der Vergangenheit geworden ist, konnten wir bisher noch nicht aufklären. Da kümmert sich jetzt die Staatsanwaltschaft drum. Es wäre natürlich schlimm, wenn das Leid der Kinder noch früher hätte gestoppt werden können."
Der Fall des Mädchens ist inzwischen Teil der Anklage gegen Andreas V. Ihm und seinen Mitangeklagten Heiko V. und Mario S. werden insgesamt mehr als 450 Einzeltaten sexueller Gewalt gegen Kinder vorgeworfen.
Verwendete Quellen:
- Berichte von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung: "Polizei hätte Andreas V. schon vor fast 20 Jahren auf die Spur kommen können"
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.