§13 im SGB XII. Dieser Paragraf ist für Menschen mit Behinderung, die auf viel Unterstützung angewiesen sind und in ihren eigenen vier Wänden leben möchten, Ursache für schlaflose Nächte. Durch den sogenannten Mehrkostenvorbehalt bewilligen Sozialämter oft nur kostengünstigere Heimplätze, nicht aber das Wohnen in einer eigenen Wohnung mit persönlicher Assistenz. Die Grünen fordern die Abschaffung des Paragraphen. Unsere Redaktion hat mit zwei Betroffenen gesprochen.

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Corina Zolle ist zufrieden: Sie lebt in einer eigenen Wohnung, gleich neben ihrer Mutter, hat einen Hund und engagiert sich ehrenamtlich. Sie ist gerne draußen, telefoniert viel und kümmert sich um ihre Mitmenschen.

Aber im Hinterkopf sitzt beständig eine Angst. "Ein Damoklesschwert schwebt über mir", sagt die 52-Jährige. Denn: Damit Zolle ihr Leben so selbstbestimmt führen kann, ist sie auf eine persönliche Assistenz angewiesen und damit auf die Zahlungszusage ihres Kostenträgers.

Seit Kleinkindalter lebt die promovierte Biologin mit einer Muskelerkrankung, die dazu führt, dass sie sich nicht mehr bewegen kann. Laufen hat sie nie gelernt.

Verletzung der UN-Behindertenrechtskonvention

Wie Zolle geht es tausenden Menschen mit Behinderung, und das Damoklesschwert, von dem sie spricht, hat einen Namen: Der sogenannte Mehrkostenvorbehalt aus dem 12. Sozialgesetzbuch. In §13 heißt es:

"Der Vorrang der ambulanten Leistung (vor stationären, Anm. d. R.) gilt nicht, wenn eine Leistung für eine geeignete stationäre Einrichtung zumutbar und eine ambulante Leistung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist."

Konkret: Menschen mit Behinderungen wird nur dann ein Wohnen in den eigenen vier Wänden ermöglicht, wenn die Kosten dafür die Heimkosten nicht "unverhältnismäßig" übersteigen.

Gleichzeitig aber wird Menschen mit Behinderung in der UN-Behindertenrechtskonvention (2009) das Recht zugesichert "ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben." Wie passt das zusammen?

200.000 behinderte Menschen in Wohneinrichtungen

Wenn es nach den Grünen geht, dann gar nicht: Sie fordern die Abschaffung des Mehrkostenvorbehaltes.

Die Fraktionsvorsitzende Kathrin Göring-Eckardt und die behindertenpolitische Sprecherin Corinna Rüffer sprechen von einer "Unterstützungsbremse", wenn "Menschen, die mit Assistenz in ihrer eigenen Wohnung leben möchten, vom zuständigen Sozialamt nur einen Heimplatz finanziert bekommen."

Die Regelung verletze die Behindertenrechtskonvention in "eklatanter Weise." Ihre Forderung: Bis 2030 soll die Hälfte der behinderten Menschen, die bislang auf Heimplätze angewiesen sind, das selbstbestimmte Leben in einer eigenen Wohnung ermöglicht werden.

Aktuell leben rund 200.000 behinderte Menschen in Wohneinrichtungen – 20 Prozent mehr als noch vor zehn Jahren.

Schwammige Begriffe

Zolle hat aktuell "Ruhe", ihr Träger übernimmt die Kosten für eine persönliche Assistenz. Sie weiß aber: "Es könnte nur ein Wechsel des Sachbearbeiters sein, der auf einmal prüft, wo man noch Geld sparen könnte. Es soll immer die günstigste Lösung gefunden werden."

"Zumutbar" und "unverhältnismäßig", wovon im Paragraphen die Rede ist, sind in Zolles Augen sehr schwammige Begriffe. "Das Schicksal der Betroffenen ist vom Sachbearbeiter abhängig. Es liegt in seinem Ermessen, ob er es für zumutbar hält, den Betroffenen für weniger Geld in ein Heim zu senden", erklärt Zolle.

Mit Anfang 50 ins Seniorenheim

Im Fall von Winfried Glosser hielt der Kostenträger das für zumutbar. Er bewilligte ihm die gewünschte persönliche Assistenz nicht, sondern zahlte nur den Heimplatz: Der Ingolstädter, der mit Multipler Sklerose lebt, ging notgedrungen in ein vorgeschlagenes Seniorenheim. Da war er gerade Anfang 50, das Heim mehr als 50 km von seinem Wohnort entfernt.

Heute fühlt sich der 57-Jährige vom Kampf mit Sozialgerichten und Kostenträgern ausgelaugt. "Ich habe erstmals 2013 eine persönliche Assistenz beantragt. Zuvor konnte ich noch selbstständig Türen öffnen und Geld abheben", erinnert sich Glosser.

Aber die Krankheit schreitet schleichend voran: Heute, sechs Jahre später, ist Glosser ab dem Halswirbel gelähmt, benötigt Hilfe bei nahezu allen Tätigkeiten – vom Naseputzen bis zum Trinken.

"Mehr Folter als Pflege"

Die persönliche Assistenz wird Glosser nur nach Verhandlungen vor dem Sozialgericht bewilligt. "Ich habe 20 Stunden beantragt, übernommen werden sollten nur 2,5 Stunden und die Grundpflege", erinnert er sich. Es sei ein ständiges Hin und Her aus Anträgen und Widersprüchen gewesen. 2015 findet er sich im Seniorenheim wieder. Glosser sagt: "Es war mehr Folter als Pflege."

Er berichtet von Situationen, in denen er stundenlang nicht im Bett gewendet wurde, erst nachmittags Frühstück bekam und in dunklen Räumen lag. "Kaum auszuhalten", sagt er.

Ein persönlicher Kontakt ermöglicht ihm den Weg aus dem Heim, eine polnische 24-Stunden-Pflege soll sich um ihn kümmern. Doch die Zustände bessern sich nur wenig: "Nachts kam niemand, um mich umzubetten. Die Pflegekraft sagte mir, sie wolle ausschlafen."

Eigenkapital ist aufgebraucht

Von den 270.000 Euro, welches Glossers Vater ihm hinterlassen hat, behalten die Ämter große Teile ein, den Rest wendet Glosser auf. Jetzt ist das Geld aufgebraucht. "Mir droht wieder das Heim, der Mehrkostenvorbehalt hat mir das Genick gebrochen." Glosser klammert sich derzeit an eine mündliche Zusage zur Kostenübernahme seitens des Oberbezirk Bayerns.

"Meine Krankheit schreitet schneller voran, wenn ich mehr Stress habe", sagt er. Seit der ersten Antragsstellung sei seine Krankheit schneller vorangeschritten als in den 18 Jahren zuvor.

Zolle sagt: "Wenn jemand nicht ins Heim möchte, dann ist es auch nicht zumutbar." Sie selbst hat drei Jahre in einer Einrichtung für körperbehinderte Menschen gelebt, musste teilweise ihre Eltern anrufen, als sie aufs Klo musste - die fuhren 150 Kilometer zu ihrer Tochter. "Es war niemand da, um mir zu helfen", sagt sie.

Ein Heim könne nicht das gleiche leisten wie eine persönliche Assistenz. "Dort ist man oft nur untergebracht", meint Zolle. Glosser sagt: "Drei Pfleger kommen auf über 30 Patienten. Für meinen Hilfebedarf reicht das nicht."

Persönliche Assistenz kostet schnell das Doppelte

Den Sozialämtern aber geht es oft nur um die harten Zahlen. Zolle rechnet vor: "Um es ganz grob zu veranschaulichen: Während ein Heimplatz vielleicht 5.000 Euro im Monat kostet, liegt eine persönliche Assistenz bei 10.000 Euro." Dies sei aber nur ein Richtwert und hänge von der Art der Behinderung und vielen weiteren Faktoren ab.

Beträgt die Einsparung auf dem Papier vielleicht einige tausend Euro, kostet sie den Betroffenen etwas Unbezahlbares: Freiheit und Selbstbestimmung.

"Man kann nicht einfach abends ins Kino gehen oder sein Abendessen aussuchen", macht Zolle deutlich. Außerdem sei man an einem fremden Ort, verliere häufig Sozialkontakte und sein Zuhause.

Mehr barrierefreie Wohnungen

Dass der Mehrkostenvorbehalt abgeschafft werden soll, begrüßen Beide. Zolle kämpfte schon vor Jahren, als es um die Einführung des Paragraphen ging, gegen den Mehrkostenvorbehalt. Mittlerweile ist sie beruflich in der Behindertenpolitik unterwegs. "Lange überfällig", kommentiert auch Glosser den aktuellen Vorstoß der Grünen.

Trotzdem erinnert Zolle: "Nur die Abschaffung des Mehrkostenvorbehaltes wird nicht reichen. Gleichzeitig braucht es weitere Maßnahmen wie mehr barrierefreie Wohnungen." Am wichtigsten bleibe aber immer noch: "Mehr Barrierefreiheit im Kopf."


Quellen:

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