Die Rote Armee Fraktion war in den 70er und 80er Jahren für den Tod von mehr als 30 Menschen verantwortlich. Im Kampf gegen die Terroristen hat sich der deutsche Staat verändert - und trotzdem Fehler wiederholt.

Ein Interview

Am 14. Mai 1970 wird der festgenommene Terrorist Andreas Baader in das Zentralinstitut für soziale Fragen in Berlin gebracht. Dort soll die Journalistin Ulrike Meinhof ihn interviewen. Dahinter steckt eine abgekartete Aktion: Baader wird von seinen Unterstützern befreit, samt Meinhof flieht er aus dem Fenster. Der Tag gilt als Geburtsstunde der Rote Armee Fraktion (RAF). Drei "Generationen" der linksterroristischen Gruppe sind in den folgenden Jahrzehnten für mehr als 30 Tote verantwortlich.

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Der Kampf gegen den Terror verändert Politik, Recht und Gesellschaft der Bundesrepublik: Sicherheitsbehörden erhalten weitreichende Befugnisse, der "Terrorparagraf" des Strafgesetzbuchs stellt die Bildung, Mitgliedschaft und Unterstützung von terroristischen Vereinigungen unter Strafe.

Der Politikwissenschaftler und RAF-Experte Wolfgang Kraushaar spricht im Interview mit unserer Redaktion über den Einfluss der Terrorgruppe auf den deutschen Staat - und über die Frage, was heute von ihr geblieben ist.

Herr Kraushaar, was bedeutete der 14. Mai 1970 für die Entwicklung der RAF?

Wolfgang Kraushaar: Zunächst einmal: Es gab keine formelle Gründung der RAF. Im Nachhinein hat man die an diesem Tag durchgeführte "Befreiung Andreas Baaders" zum Gründungsakt erhoben. Es ist bezeichnend, dass sie erheblich anders verlaufen ist, als sie ursprünglich geplant war. Denn es kam zu einem Schusswaffeneinsatz, bei dem ein Bibliotheksangestellter lebensgefährlich verletzt wurde. Vieles in dieser Gründungsphase spielte sich auch darüber hinaus alles andere als reibungslos ab. Die RAF war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht dazu in der Lage, als eine selbsternannte "Metropolenguerilla" in Aktion zu treten. Sie war eher so etwas wie ein terroristischer Embryo.

Wie ging es danach weiter?

In den Monaten danach haben ihre Mitglieder sich in einem Ausbildungscamp der palästinensischen El-Fatah im Nahen Osten zunächst an Waffen und Sprengstoff ausbilden lassen. Und als sie zurückkehrten, waren sie mehr oder weniger auf ihre Logistik reduziert. Sie haben durch Banküberfälle Geldquellen requiriert, haben Ausweise gefälscht, Autos geknackt und anderes mehr. Bei ihrem Gründungsakt im Mai 1970 war die RAF also noch weit von dem entfernt, was sie später einmal ausgemacht hat.

Es gab in Teilen der Bevölkerung damals durchaus Sympathien für die Baader-Meinhof-Gruppe. Wie ist das zu erklären?

Es war nur eine kleine Minderheit, die mehr oder weniger offen mit der RAF sympathisierte. Insbesondere einstige Aktivisten der 68er-Bewegung glaubten, dass deren Kader ihre gescheiterten politischen Ziele nun mit Waffengewalt umzusetzen versuchten. Aber auch in deren Reihen gab es nie eine Mehrheit, die hinter der RAF stand.

Nein?

1971 ergab eine Allensbach-Umfrage zwar, dass sich in Norddeutschland etwa zehn Prozent der jungen Menschen dafür ausgesprochen hätten, untergetauchten RAF-Kämpfern für eine Nacht Unterschlupf zu gewähren. Man muss aber wissen: Diese Umfrage war zu einem Zeitpunkt durchgeführt worden, als es noch keinerlei Todesopfer gegeben hatte. Der pauschale Tenor, es habe damals eine erhebliche Zustimmungsrate gegeben, ist meiner Meinung nach irreführend.

RAF löste größte Krise der inneren Sicherheit aus

In den 70er Jahren haben Terrorakte das ganze Land in Atem gehalten. Wäre die Bundesrepublik eine andere, wenn es die RAF nie gegeben hätte?

Darüber kann man nur spekulieren. Auf jeden Fall lässt sich konstatieren, dass die RAF die größte Krise der inneren Sicherheit in der alten Bundesrepublik ausgelöst hat. Das hatte erhebliche Auswirkungen auf das Verhalten des Staates, der Justiz, der Öffentlichkeit und auch auf die ohnehin vorhandenen gesellschaftlichen Spannungen. Selbst ein halbes Jahrhundert nach ihrer Gründung sind die Taten im öffentlichen Bewusstsein noch erstaunlich präsent. Gleichzeitig gibt es aber auch einen gewissen Respekt dafür, dass der Staat diese Herausforderung letzten Endes bewältigt hat - vor allem in der Regierungszeit des Bundeskanzlers Helmut Schmidt.

Wie hat sich der Staat durch diese Herausforderung verändert?

Die Folgen waren zunächst ein massiver Aufbau des Bundeskriminalamts und dann eine sukzessive Veränderung von Recht und Gesetz. Während der Entführung von Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer im Herbst 1977, dem sogenannten Deutschen Herbst, befand sich das Land faktisch in einem nicht ausgerufenen Ausnahmezustand. Helmut Schmidt hat nach der Entführung im Bundestag und in Interviews zu erkennen gegeben, dass er bis an die Grenzen des Rechtsstaats gegangen sei - und dass er sich nicht unbedingt wünschen würde, dass ein Verfassungsrechtler das einmal genauer unter die Lupe nimmt.

Allerdings haben die Lehren aus dieser Zeit nicht verhindert, dass mit dem sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund später eine weitere Terrorgruppe lange unter dem Radar der Behörden blieb. Haben sich Fehler im Umgang mit den Linksterroristen der RAF später beim Rechtsterrorismus wiederholt?

Ja, in gewisser Weise schon. Das Hauptproblem bei der Verfolgung des Nationalsozialistischen Untergrund bestand ja in einem weitgehenden Versagen des Verfassungsschutzes. Das hatte es schon zur Zeit der RAF gegeben, die praktisch unter Einfluss von staatlichen Kräften aus der Taufe gehoben worden war. Peter Urbach, ein Undercover-Agent des Berliner Verfassungsschutzes, hatte zum Beispiel Horst Mahler, dem maßgeblichen Begründer der RAF, dessen erste Schusswaffe besorgt. Der Staat hat auf diese Weise geradezu Öl ins Feuer gegossen - und das alles in West-Berlin, in einer ohnehin aufgeputschten Situation und zugleich an der Nahtstelle des Ost-West-Konflikts. Das ist ein sehr trübes Kapitel, aus dem man im Grunde nichts gelernt hat.

Warum nicht?

Derartige Verwicklungen gab es auch zu Zeiten des Nationalsozialistischen Untergrunds. Die Finanzierung von V-Leuten und der Einsatz von Undercover-Agenten hat dort eine große Rolle gespielt - ohne dass der Staat das dahinter existierende mörderische Netzwerk überhaupt wahrhaben wollte.

Die RAF hat am 20. April 1998 ihre Selbstauflösung verkündet. Wie glaubwürdig war das?

Derjenige, der sich am besten mit der RAF auskannte, hat damals Zweifel an der Echtheit des Auflösungsschreibens geäußert. Das war Horst Herold, der ehemalige Präsident des Bundeskriminalamts und die Schlüsselfigur in der Verfolgung der RAF. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass eine Gruppierung wie die RAF so unhistorisch sei, ausgerechnet am Geburtstag von Adolf Hitler ihre Auflösung bekannt zu geben. Es hat sich aber schnell herausgestellt, dass diese Bedenken unbegründet und die Auflösungserklärung authentisch war.

Trotzdem fahndet das Bundeskriminalamt weiter nach drei Mitgliedern. Ist die RAF also Geschichte oder nicht?

Ich gehe nicht davon aus, dass es eine vierte Generation der RAF gibt. Das Trio, das in Serie schwerbewaffnet Geldtransporte überfallen hat und immer noch nicht gefasst werden konnte, halte ich jedenfalls nicht für eine Nachfolgegruppierung. Es handelt sich unzweifelhaft um ehemalige RAF-Angehörige. Aus diesem Grund ist nicht ganz auszuschließen, dass das erbeutete Geld in Kanäle fließt, über die militante Aktionen unterstützt werden könnten. Aber Ansätze zum Neuaufbau einer Guerilla-Organisation sind derzeit wirklich nicht zu erkennen.

Über den Experten

  • Der Politikwissenschaftler Dr. Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung gilt als einer der renommiertesten Experten für Linksterrorismus in Deutschland. Er veröffentlichte unter anderem die Sachbücher "Die RAF und der linke Terrorismus" und "Die blinden Flecken der RAF".
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