- Die Barmer fordert eine Verfeinerung der Impfgruppen.
- Zehn Krankheiten sind nach ihrem Modell in Kombination mit COVID-19 besonders tödlich.
Das Barmer Institut für Gesundheitsforschung (bifg) will mit einem Modell zur Optimierung der Impfstrategie die aktuell geltende Impfverordnung ergänzen. Dazu hat das Institut anhand von neun Millionen Krankenkassendaten Vorerkrankungen definiert, in deren Kombination eine Erkrankung an COVID-19 besonders gefährlich ist. Auf diese Weise sollen stark Gefährdete zielgenauer erkannt und schneller mit der Impfung geschützt werden.
Die bislang in der Impfverordnung festgelegten Gruppen, die der Reihenfolge nach geimpft werden sollen, seien zu groß, so das bifg. "Ende Januar sind erst zwei Prozent der Bevölkerung einmal geimpft, wenn der Gesundheitsminister das Ziel, jedem Impfwilligen bis zum Sommer ein Impfangebot zu machen, erreichen will, muss das Tempo deutlich erhöht werden", so Uwe Repschläger, Leiter des bifg. Deshalb sei eine weitere Priorisierung innerhalb der bisherigen Impfgruppen notwendig.
Uwe Repschläger: "Deutlich mehr Menschenleben retten"
Momentan braucht man für das vollständige Impfen einer der vier priorisierten Gruppen jeweils mehrere Monate. Zeit, in der die anderen Gruppen, die ebenfalls ein hohes Risiko für schwere Verläufe tragen, ungeschützt bleiben.
Mit einer Feinsteuerung der Impfungen könnte man nach Angaben des Bifg jedoch mehr Menschen erreichen, die aufgrund ihrer Vorerkrankung ein besonders hohes Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf tragen.
Auf diese Weise würde die Zahl der Einlieferungen auf Intensivstationen reduziert. "Es ist möglich, auf Basis von Kassendaten Risikoabschätzungen für Versicherte vorzunehmen, und so die durchaus richtige Impfstrategie weiter zu verfeinern", betont Repschläger. "Mit diesem Modell wird man deutlich mehr Menschenleben retten können."
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Unter der Fragestellung "Wie kann der vorhandene Impfstoff zu Beginn so auf die Bevölkerung verteilt werden, dass der Nutzen für die Gesellschaft möglichst groß ist?" hat die Barmer neun Millionen anonymisierte Krankenkassendaten von Barmer-Versicherten aus den Jahren 2019 bis 2020 ausgewertet.
In einem mehrstufigen Verfahren wurden die Erkrankungen herausgefiltert, für die sich im Zusammenhang mit COVID-19 ein schwerer Verlauf ermitteln ließ. Grundlage war der sogenannte, morbiditätsoriente Risikoausgleich (Morbi-RSA).
Er dient dazu, das unterschiedliche Risiko der Krankenkassen für Zahlungen ihrer jeweiligen Versicherten durch Alter, Geschlecht, Wohnort und Krankheiten auszugleichen. Anhand dieses Ausgangsmodells wurde der Zusammenhang zwischen schwerwiegenden Vorerkrankungen und einer Einlieferung ins Krankenhaus, Beatmung und Tod nach einer bestätigten COVID-19-Infektion erkannt.
Bei diesen zehn Vorerkrankungen droht tödlicher COVID-19-Verlauf
Dem Barmer-Modell zufolge droht bei diesen zehn Arten von Vorerkrankungen ein tödlicher COVID-19-Verlauf:
- Trisomien
- Degenerative Hirnerkrankungen
- Lungenmetastasen
- Hämatologische Neubildungen
- Psychische Erkrankungen
- Nierenversagen
- Aids
- Leberversagen
- Infektionen mit multiresistenten Erregern
- Schwere neurologische Erkrankungen
Bis auf die psychischen Erkrankungen hat die Ständige Impfkommission (STIKO) die genannten Krankheiten bereits in ihre Empfehlungen aufgenommen, allerdings mit einer bislang anderen Gewichtung. Dem Modell zufolge erhöht sich das Risiko für einen sehr schweren Verlauf durch eine der zehn Erkrankungen um das 1,2 bis 5,7-fache im Vergleich zu einem gleichaltrigen, gesunden Patienten.
Personen mit diesen Erkrankungen sollten nach Empfehlung der Barmer deutlich schneller geimpft werden. Abschließend empfiehlt die Barmer, das Modell anhand der Daten von anderen Krankenversicherungen mit einer noch größeren Datenmenge zu überprüfen und zu ergänzen.
Ständige Impfkommission sieht Schwachstellen im Barmer-Modell
Die Impfverordnung wird nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) derzeit regierungsintern abgestimmt. Es gibt bereits Hinweise darauf, dass die Priorisierung von Patienten mit bestimmten Vorerkrankungen angepasst werden soll.
Die Studie der Barmer hat sich das BMG mit Interesse angeschaut, wie Bundesminister Jens Spahn auf der Pressekonferenz vom 22. Januar erklärte.
Fachkundig hat dies auch Thomas Mertens von der STIKO getan und ist dabei auf einige Schwachstellen gestoßen: "Da sich keine gesonderte Todesursachenstatistik in den Abrechnungsdaten der gesetzlichen Krankenkasse wiederfindet, gestalten sich Auswertungen zur Sterblichkeit schwierig", so der Experte auf Anfrage unserer Redaktion.
In der Barmer-Analyse würde auf Todesfälle im Krankenhaus zurückgegriffen. Dabei bliebe jedoch ein erheblicher Teil der anderen mit COVID-19 einhergehenden Todesfälle unberücksichtigt. Zudem bezögen sich die Daten des Barmer-Modells auf die erste Welle im Frühling 2020.
Laut Mertens stelle sich die Frage, ob die Zahlen aus der Vergangenheit auf die zukünftige Situation übertragbar seien. Unklar sei außerdem, inwiefern die neun Millionen Barmer-Versicherten die insgesamt 72 Millionen gesetzlichen Versicherten in Deutschland repräsentieren könnten.
Ein weiterer Kritikpunkt Mertens: "Es werden Gruppen in die Analyse aufgenommen, die nicht durch die Zulassung der Impfstoffe gedeckt sind. Beispielhaft seien hier männliche Neugeborene genannt", so der Virologe. Zudem gebe es einige Schwachstellen, die sich auf die Methodik der Studie beziehen.
Experten wollen Krankenkassendaten nutzen
Generell möchte man aber den Ansatz, Krankenkassendaten für eine Verbesserung der Impfstrategie zu nutzen, verfolgen. "Erfreulicherweise gibt es bereits konkrete Planungen, eine Kooperation mit der Barmer und gegebenenfalls weiteren Kassen einzugehen, um die sicher wertvollen Daten zu nutzen", so Mertens.
Der Verband der Ersatzkassen e.V. (vdek) begrüßt den Vorschlag der Barmer mit all seinen möglichen positiven Ergebnissen. "Nötig ist nun insbesondere eine Rechtsgrundlage, die es den Kassen ermöglicht, die bereits vorliegenden Daten für den Risikostrukturausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung auch zur Ermittlung von Risiken einzelner Versicherten verwenden zu können", heißt es in einem Statement auf Anfrage unserer Redaktion.
Das von der Barmer konzipierte Verfahren sollte nach Meinung des vdek von allen Krankenkassen angewendet werden, um gefährdete Menschen flächendeckend erkennen und die zuständigen Landesstellen darüber informieren zu können.
Verwendete Quellen:
- Schriftliche Antworten von Prof. Dr. Thomas Mertens, Vorsitzender der Ständigen Impfkommission
- Schriftliche Antworten vom Robert Koch-Institut und dem Bundesgesundheitsministerium auf Anfrage unserer Redaktion
- Statement von der Pressestelle des Verbandes der Ersatzkassen (vdek)
- Barmer Institut für Gesundheitssystemforschung: Ein Modell zur Optimierung der Corona-Impfstrategie. Eine Analyse des bifg auf der Grundlage von Routinedaten der Barmer.
- Barmer Krankenkasse: Optimierung der Impfstrategie. Barmer-Institut legt Modell vor
- Pressekonferenz zur Corona-Lage vom 22. Januar 2021.
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