Lange hat sich die Elite der internationalen Sportwagenhersteller und Autotuner die Zähne an einer Messlatte ausgebissen: 300 mph, umgerechnet 482,8 km/h, hatte bis März 2019 keiner mit einem straßenzugelassenen Auto erreicht. Doch dann kam Tuner M2K Motorsports, der mit einem aufgemotzten 2006er Ford GT 300,4 mph (483,4 km/h) erreichte, kurz bevor der Fahrer dessen Bremsfallschirm auslöste. Offiziell bestätigt von einem anerkannten Komitee (gar von jenem des Guinness-Weltrekord-Teams) wurde die Bestmarke zwar nicht. Aber die Texaner hatten damit zumindest einen Highspeed-Pflock in den Boden gerammt.

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Video: Im Video: Johnny Bohmer fährt seinen 2006 Ford GT "BADD GT” bis zum 310.8 mph (500.1 km/h)

Wie viel Leistung die Truppe dafür brauchte? Schwer zu sagen. M2K Motorsports weiß selbst nicht genau, wie viel Power der ursprüngliche, wenn auch heftig getunte 5,4-Liter-V8 des Ford GT zum Zeitpunkt der Rekordfahrt aufwies. Es gibt schlicht keinen Prüfstand, der für so viel Leistung ausgelegt ist. Bei früheren Messungen soll der Motor 2.063 PS erreicht haben; bei der 300-mph-Fahrt ging M2K Motorsports von deutlich mehr als 2.500 PS aus. Um das aus dem Ford-GT-Motor herauszuquetschen, verwendeten die Texaner zwei Turbolader, die bis zu 3,1 bar Ladedruck aufbauten.

Chiron-Prototyp mit 490,5 km/h

Im Herbst 2019 wurde die Rekordhatz professionalisiert: Bugatti-Testfahrer Andy Wallace jagte einen "seriennahen Prototyp" des Chiron Super Sport 300+ auf Volkswagens Teststrecke in Ehra-Lessien auf 304,773 mph. Bedeutete nach metrischem System: 490,5 km/h. "Wir sind überglücklich, als erster Hersteller überhaupt die Geschwindigkeit von mehr als 300 Meilen pro Stunde erreicht zu haben", sagte Bugatti-Chef Stephan Winkelmann damals. Aber auch hier blieb die offizielle Weltrekord-Anerkennung verwehrt: Unter anderem, weil der Bugatti die Bestmarke nicht in beide Richtungen fuhr – zu gefährlich, weil der Asphalt in Ehra-Lessien darauf nicht ausgelegt sei, meinten Bugattis Rekordjäger damals.

Inzwischen ist aber auch dieser Wert Makulatur: Johnny Bohmer trieb sein eigenes Auto, ebenfalls ein Ford GT des Modelljahres 2006, am 9. Dezember 2022 auf sagenhafte 310,8 mph. Und zwar auf seinem eigenen Testgelände im Kennedy Space Center in Florida (siehe Video nach dem ersten Absatz). Das als "BADD GT" bekannte Auto ist damit das erste mit Straßenzulassung, das die 500-km/h-Marke übertraf (500,2, um genau zu sein). Aber auch hier gilt: Für eine offizielle Weltrekord-Bestätigung fehlen die Voraussetzungen.

Johnny Bohmer im Ford GT auf 500,2 km/h

Der Bohmer-GT wurde natürlich ebenfalls umfassend modifiziert. Der Rekordfahrer verrät zwar nicht, auf welche Weise und auf welche Leistungsdaten. Aber er geht davon aus, dass das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht ist. "In seiner jetzigen Konfiguration haben wir weitere 500 bis 700 PS, mit denen wir die Höchstgeschwindigkeit wirklich steigern können", sagt Bohmer, der das Auto nach eigener Aussage einst als Neuwagen kaufte und auch im Alltag nutzt. Es soll nach wie vor über Komfort-Features wie eine Klimaanlage, elektrische Fensterheber und eine funktionierende Stereoanlage verfügen.

Auch der US-Hypercar-Hersteller SSC North America glaubte bereits, mit seinem Tuatara die 300-mph-Marke übersprungen zu haben – und zwar deutlich. Doch dann haben einige Experten nachgemessen sowie -gerechnet und dabei herausgefunden, dass das nicht stimmen kann. SSC-Chef Jerod Shelby musste daraufhin zugeben, dass die Messtechnik nicht gut genug funktioniert hatte. Er ruderte zurück und gab sich danach mit kleineren Topspeed-Werten zufrieden.

SSC Tuatara mit 455,3 und 474,8 km/h

Seitdem hat der SSC Tuatara zwei weitere Rekordfahrten absolviert, und zwar ebenfalls auf der 2,3 Meilen (3,7 Kilometer) langen Start- und Landebahn der Johnny Bohmer Proving Grounds. Hier erreichte er mit seinem 1.774 PS starken Twin-Turbo-V8 mit 5,9 Litern Hubraum im Januar 2021 in Südrichtung 286,1 mph (460,4 km/h), nach Norden waren es 279,7 mph (450,1 km/h). Gewertet wurde der Schnitt aus beiden Läufen; der damalige Rekordwert waren demnach 282,9 mph (455,3 km/h).

Video: Der SSC Tuatara fährt 295 mph im Video

Im Mai 2022 wiederholt SSC das Spiel und erreichte 295 mph (474,8 km/h); laut Video wurde aber nur in eine Richtung gefahren. Am Steuer saß der amerikanische Hypercar-Sammler Larry Caplin, der gleichzeitig der Besitzer des Autos ist. Doch auch die neue Bestmarke ist dem SSC-Chef zufolge nur ein Zwischenschritt: "Die schiere Beschleunigung, die der Tuatara bis zu 295 mph erreicht hat, hat uns gezeigt, dass dieses Auto nicht einmal annähernd an seine Grenzen stößt", sagt Jerod Shelby. "Alle Daten und Bilder haben uns ein klares Bild davon gegeben, dass der begrenzende Faktor nicht das Auto war, sondern die Tatsache, dass uns die Startbahn ausging."

Koenigsegg Agera RS als offizieller Weltrekordhalter

Im Guinness-Buch der Weltrekorde wird jedoch weiterhin der Koenigsegg Agera RS als schnellstes straßenzugelassenes Auto der Welt geführt. Das schwedische Hypercar stellte bereits im November 2017 auf jener Straße in Nevada, die auch SSC für seinen ersten (misslungenen) Rekordversuch nutzte, den damaligen Geschwindigkeits-Rekord für Serienautos auf: 447,2 km/h bzw. 277,9 mph schaffte der 1.176 PS starke Schwede damals. In der absoluten Spitze fuhr er 457,9 km/h schnell. Seinerzeit gab es keine Zweifel daran, dass der Agera RS tatsächlich so schnell war: Er trat mit Straßenreifen an, fuhr mit regulär erhältlichem Kraftstoff und absolvierte die Fahrt auf öffentlichen Straßen.

Ein weiterer namhafter 300-mph-Jäger ist Hennessey Performance. John Hennessey hat seinen neuen Venom F5 dazu auserkoren, die Schallmauer zu durchbrechen. "Wir sind bereit, dass der Venom F5 sein 300-mph-Potenzial ausschöpft", sagt der Firmengründer und -chef des texanischen Tuners und Kleinserienherstellers. Hennessey will die Rekordjagd unbedingt in diesem Jahr durchziehen, denn für ihn hat es eine große historische Bedeutung: Am 14. Februar 2014, also vor genau zehn Jahren, stellte er mit dem alten Venom bereits einen Highspeed-Rekord für Serienautos auf. Damals reichten 270,49 mph (435,3 km/h) für die – allerdings ebenfalls inoffizielle – Bestmarke.

Hennessey verstärkt sich vor Rekordversuch

Klar ist, dass für das Vorhaben schiere Motor-Power nötig ist. Im Fall des Venom F5 soll diese ein 6,6-Liter-Twin-Turbo-V8 gewährleisten. Das 1.842-PS-Kraftwerk steckt nicht mehr in einem Lotus-Chassis, wie sie ältere Venom-Generationen nutzten, sondern in einer Eigenkonstruktion. "Wir werden so viel aus dem Motor herausholen, wie wir brauchen, um 300 mph zu erreichen", sagte Firmengründer John Hennessey den britischen Kollegen von "Top Gear". Zudem soll der F5 windschnittiger als der alte Venom geworden sein, schließlich strebt der Texaner nach Höherem: Als Höchstgeschwindigkeit gibt Hennessey für den Venom F5 gar 311 mph (500,5 km/h) an.

Video: Hennessey Venom F5 jagt Topspeed-Rekord [ENGLISCH]

Hennessey überlässt nichts dem Zufall, um die Rekordjagd zu einem erfolgreichen Ende zu führen. Am Steuer wird beim 300-mph-Projekt Profi-Rennfahrer David Donohue sitzen, der zuletzt im Sommer 2023 beim Pikes-Peak-Bergrennen in einem Porsche mit Rekordzeiten auf sich aufmerksam gemacht hatte. Auch auf technischer Seite haben sich die Texaner verstärkt: Brian Jones, seit September 2023 "Vice President of Engineering", hatte zuvor an entscheidender Stelle bei der Entwicklung des Mercedes-AMG One mitgewirkt, seines Zeichens aktueller Rekordhalter in der Kategorie Serien-Supersportwagen auf der Nürburgring-Nordschleife und der Grand-Prix-Strecke in Monza. "Wir wissen mit Sicherheit, dass wir die Leistung haben, um unsere Ziele zu erreichen", sagt Jones. "Unser Team wird die Leistungsentfaltung und die Aerodynamik optimieren, damit wir den Topspeed auch wirklich erreichen."

Koenigsegg greift mit dem Jesko Absolut an

Koenigsegg dürfte sich das Treiben von Bugatti und den Amerikanern nicht lange tatenlos ansehen. Gründer Christian von Koenigsegg hielt den Agera RS bereits für fähig, die 300-mph-Marke zu brechen. Nun hat er den 2022 vorgestellten, besonders windschlüpfigen Jesko Absolut zur Verfügung, der bei Simulationen bereits schnell genug fuhr. Allerdings fürchtet von Koenigsegg die unkontrollierbaren Aspekte eines solchen Vorhabens – Dinge wie Wind, Tiere, Bodenwellen. "Es ist machbar, aber nicht unser vorrangiges Ziel", ergänzt der Firmenchef.

Dass Christian von Koenigsegg grundsätzlich viel von derartigen Rekordjagden hält, macht nicht nur der offizielle Bestwert des Agera RS klar, sondern ebenso ein weiteres Highlight: Mit dem Regera gelang den Schweden im Sommer 2022 ein Rekord in der Disziplin "0-400-0 km/h". Gleichzeitig macht Koenigsegg klar: Entweder schafft es der Jesko Absolut, die 300-mph- oder 500-km/h-Schallmauer zu durchbrechen, oder die Skandinavier ziehen sich aus der Rekordjagd zurück. Denn "das Unternehmen wird sich niemals bemühen, ein schnelleres Serien-Straßenfahrzeug herzustellen – niemals", hieß es seinerzeit im offiziellen Pressetext zu dem Hypercar.

Die Reifen als limitierender Faktor

Ein anderer limitierender Faktor sind die Reifen. Michelin scheint bisher als einziger Hersteller in der Lage zu sein, die passenden Gummis für derlei Geschwindigkeitsrekorde backen zu können. Doch selbst die Franzosen haben ihre Bedenken, was die 300-mph-Marke angeht. Alles steht und fällt damit, wie lange ein Auto braucht, um diesen Speed zu erreichen: "Falls das Auto zwar schnell 270 Meilen pro Stunde erreicht, aber weitere fünf Minuten bis 300 braucht, dann wird es nicht funktionieren", sagt Michelin-Produktmanager Eric Schmedding im Gespräch mit "The Drive". Das Problem: Je länger ein Reifen bei diesem Speed rotiert, desto heißer wird er. Das bedeutet extremen Stress für den Pneu – mit bislang unabsehbaren Folgen.

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John Hennessey glaubt allerdings, das Reifenthema im Griff zu haben. Sein Auto sei schließlich leicht und windschlüpfig genug. Und er freut sich, bei der Geschwindigkeitshatz nicht alleine unterwegs zu sein. "Ich finde es toll, dass Koenigsegg auf Hochgeschwindigkeitskurs ist und hoffe, dass Bugatti auch mitmacht", sagt der Texaner. "Rivalitäten wie diese beflügeln unsere Leidenschaft und treiben uns an, noch schneller zu werden, noch fortschrittlicher zu sein und noch härter zu arbeiten."  © auto motor und sport

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