Mobilität ist mehr als nur Fortbewegung – sie bestimmt, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen und mit anderen in Kontakt treten. Studien zeigen: Wer zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs ist, erlebt mehr soziale Interaktion als Autofahrer. Doch warum ist das so? Und was bedeutet das für unser Zusammenleben?

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Mobilität ist weit mehr als reine Fortbewegung – sie ist ein Schlüssel zur sozialen Interaktion und beeinflusst unser Verhalten ebenso wie unsere Wahrnehmung des öffentlichen Raums. Sie beeinflusst unser Sozialverhalten und schafft Begegnungen. Der Sozialpsychologe Harald Schuster forscht an der Fernuniversität Hagen genau zu diesem Thema und bringt eine vollkommen neue Perspektive auf das Fahrradfahren ein: Es ist nicht nur ein Mittel zur Bewegung, sondern ein Raum für soziale Interaktion.

Die Wissenschaft hinter dem Fahrradfahren

"Wir haben untersucht, welche Auswirkungen Mobilität auf nachbarschaftliches Erleben hat – etwa auf Hilfeverhalten, soziale Fürsorge und politische Partizipation", erklärt Schuster. Dabei zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang: Wer aktiv unterwegs ist – zu Fuß oder mit dem Fahrrad – nimmt seine Umgebung bewusster wahr, interagiert mehr mit Mitmenschen und engagiert sich häufiger in seiner Nachbarschaft.

Besonders spannend: Diese positiven Effekte lassen sich beim Autofahren nicht im gleichen Maße feststellen, da das Auto eine abgeschottete Umgebung schafft und Interaktionen mit der Umgebung auf ein Minimum reduziert werden. "Das Auto ist ein abgegrenzter Raum. Man erlebt den Weg nicht, sondern ‘überwindet’ ihn nur", so Schuster. Die Unmittelbarkeit des Fahrradfahrens hingegen fördere soziale Kontakte und schaffe ein Bewusstsein für das eigene Umfeld.

Was bedeutet eigentlich Verkehr?

Verkehr ist mehr als nur das physische Bewegen von A nach B. Verkehr beschreibt den gesamten Prozess der Fortbewegung und Interaktion im öffentlichen Raum. Dazu gehören nicht nur die genutzten Verkehrsmittel, sondern auch die Art und Weise, wie Menschen miteinander in Kontakt treten. Schuster erklärt: "Lange Zeit wurde Verkehr nur als Transportraum verstanden, in dem es darum geht, schnell von einem Punkt zum anderen zu kommen. Doch eigentlich ist Verkehr ein sozialer Raum, in dem Begegnungen stattfinden – sei es durch Blickkontakte, Gespräche oder einfach das Wahrnehmen der Umgebung."

Das Wort "Verkehr" leitet sich vom Verb "verkehren" ab, das nicht nur "sich fortbewegen" bedeutet, sondern auch "sich mit anderen austauschen, mit jemandem in Kontakt treten". Diese doppelte Bedeutung zeigt bereits, dass Verkehr nicht nur technischer Natur ist, sondern eine soziale Dimension besitzt. Wer "verkehrt", der bewegt sich nicht nur von einem Ort zum anderen, sondern interagiert mit seiner Umwelt und den Menschen darin.

In der klassischen Verkehrsplanung wurde der Fokus daraufgelegt, Wege effizienter und kürzer zu gestalten. Dadurch wurde der öffentliche Raum oft so konzipiert, dass er vor allem der schnellen Fortbewegung dient – mit dem Ergebnis, dass soziale Interaktionen im Verkehrsalltag zurückgedrängt wurden. "Wenn Menschen sich im Verkehr nicht mehr begegnen, sondern nur noch aneinander vorbeiziehen, leidet das soziale Miteinander", so Schuster.

Mobilität als Raum für Begegnungen – Bewegung vs. Begegnung

Die Vorstellung von Mobilität als reiner Bewegung greift zu kurz – sie ist vielmehr ein Prozess der Wahrnehmung und des sozialen Austauschs. Während das Auto primär der schnellen Fortbewegung dient, schafft aktive Mobilität – insbesondere das Radfahren – Raum für soziale Begegnungen. "Unterwegssein ist nicht nur ein Mittel zum Zweck. Es ist ein Moment, in dem wir die Welt wahrnehmen, mit anderen interagieren und den öffentlichen Raum aktiv erleben", betont Schuster.

Ein Spaziergang durch die Nachbarschaft oder eine entspannte Radtour eröffnen Gelegenheiten für spontane Gespräche, Blickkontakte und die Wahrnehmung gemeinschaftlicher Dynamiken. "Viele Menschen denken Mobilität primär als Notwendigkeit. Doch sobald man beginnt, den Weg selbst als wertvollen Teil des Erlebnisses zu begreifen, verändert sich der Blick auf Mobilität grundlegend", erklärt Schuster.

Dieser Perspektivwechsel ist entscheidend für das soziale Miteinander. "Begegnungen entstehen nicht zufällig – sie brauchen Räume, die sie ermöglichen. Wer sich bewusst durch seine Stadt bewegt, bemerkt schnell, wie viele solcher Begegnungen durch die gewählte Art der Mobilität beeinflusst werden."

Warum fällt der Umstieg auf aktive Mobilität so schwer?

Während Schuster die positiven Effekte aktiver Mobilität betont, bleibt eine zentrale Frage: Warum setzen so viele Menschen weiterhin auf das Auto? "Mobilität bedeutet Reichweite. Viele verbinden Freiheit mit Geschwindigkeit", erklärt er. Doch diese Freiheit hat ihren Preis: Wer sich schnell von A nach B bewegt, verliert den Blick für das, was dazwischen liegt – die Umwelt, die Menschen, die kleinen sozialen Begegnungen des Alltags.

Hinzu kommt ein gesellschaftlicher Wandel: "Früher war der Kirchgang oder der Einkauf beim Bäcker für viele ein sozialer Fixpunkt. Heute verlagert sich das in große Einkaufsmärkte oder Online-Shopping. Der öffentliche Raum als Begegnungsraum schwindet." Diese Entwicklung, so Schuster, beeinflusst das soziale Miteinander und schwächt nachbarschaftliche Beziehungen.

Die Haltung macht den Unterschied

Schusters Forschung zeigt, dass nicht nur die Wahl des Verkehrsmittels, sondern auch die innere Haltung entscheidend ist. "Mit dem Hollandrad fahre ich entspannt, nehme meine Umgebung wahr und grüße Menschen. Auf dem Rennrad bin ich fokussiert auf Geschwindigkeit." Diese Haltungen prägen die Mobilitätskultur: Wer seine Wege bewusst und mit Offenheit zur Interaktion zurücklegt, erfährt Mobilität als sozialen Prozess.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Forschung von Marco te Brömmelstroet, der die sozialen Erfahrungen unterschiedlicher Fahrradtypen untersucht hat. "Seine Studie zeigte, dass beispielsweise Hollandräder mit aufrechter Sitzhaltung und gemäßigtem Tempo mehr soziale Interaktion ermöglichen als sportliche Rennräder, bei denen der Fokus stärker auf Geschwindigkeit und Streckenbewältigung liegt", erläutert Schuster. "Die Sitzhaltung beeinflusst nicht nur das Fahrgefühl, sondern auch das Maß an sozialer Wahrnehmung und Interaktion während der Fahrt." Besonders an Kreuzungen oder bei der Orientierung zeigte sich in den Studien, dass Hollandrad-Fahrer häufiger Blickkontakt mit anderen aufnehmen und Verkehrssituationen aktiv aushandeln, während Sport- oder Rennradfahrer stärker auf ihre eigene Bewegung fokussiert bleiben.", der die sozialen Erfahrungen unterschiedlicher Fahrradtypen untersucht hat. "Seine Studie zeigte, dass etwa Hollandräder mit aufrechter Sitzhaltung und gemäßigtem Tempo mehr soziale Interaktion ermöglichen als sportliche Rennräder, bei denen der Fokus stärker auf Geschwindigkeit und Streckenbewältigung liegt", erläutert Schuster. "Die Sitzhaltung beeinflusst nicht nur das Fahrgefühl, sondern auch das Maß an sozialer Wahrnehmung und Interaktion während der Fahrt."

"Ich habe mir angewöhnt, 10 Minuten früher loszufahren, um den Weg nicht als Stress, sondern als Erlebnis zu sehen", berichtet Schuster von seinen eigenen Erfahrungen. "Das macht einen riesigen Unterschied."

Neue Ansätze für die Mobilität der Zukunft

Ein spannendes Beispiel für einen alternativen Ansatz sind sogenannte Fahrradbusse: Kinder treffen sich an einem festen Punkt und fahren gemeinsam mit dem Rad zur Schule. "Das gibt Sicherheit, fördert soziale Interaktion und macht den Schulweg zu einem Gemeinschaftserlebnis", erklärt Schuster.

Er plädiert dafür, Mobilität nicht nur als Frage der Infrastruktur zu betrachten, sondern als soziale Aufgabe: "Es geht nicht darum, Menschen zu bevormunden. Vielmehr sollten wir Anreize schaffen, damit Mobilität wieder als sozialer Raum verstanden wird – sei es durch Stadtplanung, Bildungsangebote oder einfach durch die Art, wie wir über Mobilität sprechen."

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Fazit

Mobilität als Chance begreifen. Ob im urbanen Raum oder auf dem Land – Mobilität beeinflusst, wie wir unsere Umwelt erleben und mit anderen interagieren. Das Bewusstsein für diesen Zusammenhang ist essenziell, um Mobilität nicht nur funktional, sondern als soziale Erfahrung zu gestalten. "Wir verbringen durchschnittlich 80 Minuten pro Tag mit Fortbewegung. Das ist mehr Zeit als die meisten von uns mit Hobbys verbringen", so Schuster. "Warum diese Zeit nicht nutzen, um bewusst und sozial unterwegs zu sein?"

Die Forschung zeigt: Mobilität ist mehr als ein Mittel zum Zweck. Sie kann zu einem Schlüssel für ein bewussteres, sozialeres und gesünderes Leben werden – wenn wir sie als solche begreifen.  © Bike-X