Die Entwicklung selbstfahrender Autos ist mächtig ins Stocken geraten. Die komplexen Systeme sind mit den aktuellen Ansätzen kaum in den Griff zu bekommen. Das britische Start-up Wayve geht daher neue Wege, indem es radikal auf KI setzt und viel von der Technik weglässt, die bisher als unverzichtbar galt.
Das mit dem autonomen Fahren ist ja so eine Sache: Seit zehn Jahren steht die Technik angeblich kurz vor der Serienreife, doch außerhalb von ein paar überschaubaren Testgebieten in den USA rollen noch keine Robo-Taxis durch unsere Städte. Die Aufgabe, unter allen Verkehrs- und Wetterbedingungen richtig zu reagieren und mindestens so sicher zu fahren wie ein Mensch, hat sich als extrem komplex erwiesen – und das, obwohl in den letzten Jahren über 100 Milliarden Dollar in die Entwicklung der Fahrsysteme geflossen sind. Finanzkräftige Unternehmen wie die Google-Tochter Waymo oder GM mit Cruise forschen zwar weiter, viele klassische Autohersteller haben ihre Pläne jedoch zusammengestrichen oder konzentrieren sich darauf, vorhandene Assistenzsysteme weiterzuentwickeln, um den Fahrer zumindest in bestimmten Verkehrssituationen zu entlasten.
Fast eine Milliarde Euro von Microsoft und NVIDIA
Doch es gibt Ansätze, die noch immer Hoffnung auf komplett fahrerlose Autos machen. So wird dem britischen Start-up Wayve attestiert, eine radikal andere und dadurch erfolgversprechende Strategie zu verfolgen. Im Mai 2024 schloss Wayve eine Finanzierungsrunde mit fast einer Milliarde Euro ab, was die 2017 gegründete Softwarefirma zum finanziell am besten ausgestatteten KI-Start-up Europas macht. Neben Microsoft gehört NVIDIA zu den Unterstützern – Unternehmen also mit höchster KI-Kompetenz.
Der Ansatz der Wayve-Entwickler ist deshalb so radikal, weil sie vieles weglassen, was in der autonomen Szene als unverzichtbar gilt: teure Radar- und Lidar-Sensoren beispielsweise, aber auch die hochauflösenden Karten, in denen jede Bordsteinkante vermerkt ist und die eine zentimetergenaue Ortung ermöglichen. Oder von Hand programmierte Algorithmen, sprich Fahrregeln. Wayve navigiert rein auf Kamera-Basis und über Algorithmen, die von künstlicher Intelligenz generiert wurden.
KI auf allen Ebenen
Trainiert wird die KI mit Videos realer Autofahrten. Viele bisherige Ansätze nutzen zwar ebenfalls KI, etwa bei der Bilderkennung, um Radfahrer von Fußgängern zu unterscheiden und Ähnliches. Doch viele Regeln, wie sich das Auto im Verkehr zu verhalten hat, werden dem System vorab mitgeteilt, sprich hart programmiert: dass man in Kontinentaleuropa auf der rechten Spur fährt, was Zahlen und Symbole auf Verkehrsschildern bedeuten oder dass an einer roten Ampel angehalten werden muss.
Der Autopilot von Wayve hat sich dies selbst beigebracht, quasi per Nachahmung, da auf den Fahr-Videos zu sehen war, dass Menschen an roten Ampeln anhielten und den rechten Fahrstreifen benutzten. Er verfolgt den Ansatz des maschinellen Lernens durchgängig vom Anfang bis zum Ende, also von der Umgebungswahrnehmung bis zum Einleiten der notwendigen Lenk- und Bremsmanöver.
Imitieren statt programmieren
Wayve sieht sich dadurch auch für seltene Ereignisse gerüstet, die ein Problem bisheriger Systeme darstellen. Baustellen beispielsweise können im Detail sehr unterschiedlich aussehen, was es erschwert, im Vorfeld konkrete Regeln festzulegen. Der Wayve-Autopilot imitiert daher auch hier das Verhalten der Autofahrer in ähnlichen Situationen: sich langsam und vorsichtig durch das unübersichtliche Terrain zu schlängeln und nirgends anzustoßen. Statt alle Szenarien einzeln zu implementieren und dann bei jeder noch so kleinen Abweichung doch wieder hilflos dazustehen, reduziert Wayve lieber gleich den Grad der Komplexität.
Keine hochauflösenden Karten
Der Verzicht auf die hochauflösenden Karten soll wiederum dazu führen, dass Wayves Robo-Fahrer sich auch in unbekannten Gegenden bewegen kann. Genau wie ein Fahrer aus Fleisch und Blut soll er in der Lage sein, unfallfrei durch fremde Städte zu fahren. Ein Mensch, der seinen Führerschein in München gemacht hat, ist schließlich in der Lage, unfallfrei durch Hamburg zu fahren, selbst wenn er noch nie zuvor dort war. Zur Orientierung genügt ihm in beiden Fällen ein schlichtes Navigationssystem ohne HD-Karten.
Der Verzicht auf Lidar- und Radar-Sensoren erinnert an Tesla. Elon Musk betont seit Jahren, dass er die Extra-Sensoren für unnötig hält. Da Tesla beim autonomen Fahren jedoch außer Ankündigungen noch nichts geliefert hat, scheint hier Skepsis angebracht zu sein. Wayve ist in diesem Punkt weniger dogmatisch: Ihr selbstlernender Ansatz lässt auch die Einbeziehung weiterer Sensoren zu, falls Autohersteller, die am System interessiert sind, dies wollen.
Der Algorithmus spricht mit den Insassen
Um das Vertrauen in das Wayve-System zu steigern, generiert die KI neben den eigentlichen Fahrmanövern gleich noch Sprachkommentare mit. Das Auto erklärt während der Fahrt in Echtzeit, dass es jetzt gleich einen Spurwechsel durchführen wird, dass es wegen eines bremsenden Vordermanns ebenfalls langsamer wird oder dass es eine Ampel entdeckt hat. Das Sprachmodul kann aber auch umgekehrt Anweisungen der Insassen in Fahraktionen ummünzen ("Biege hier rechts ab"). Der Robo-Fahrer nimmt also wie ein Mensch Anweisungen entgegen. © auto motor und sport
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