Der Fall Wirecard ist einer der größten Anlegerskandale in der Geschichte der Börse. Wie konnte es so weit kommen? Und welche Rolle spielten Banken, Wirtschaftsprüfer und die Bankenaufsicht Bafin?
Im September 2018 feiert Wirecard-Chef Markus Braun seinen größten Triumph. Die Commerzbank fliegt nach Jahrzehnten aus dem wichtigsten deutschen Börsenindex DAX. Brauns Unternehmen Wirecard ersetzt das Bankhaus.
Symbolischer könnte der Stabwechsel in der Börsenliga nicht sein: Vision und kontaktloses Bezahlen sticht Kreditvergabe und Spareinlage. Das angestaubte Geschäft der traditionellen Hausbank ist von gestern, Near Field Communication und Kreditkarte sind die Zukunft. Mit dem Aufstieg des Zahlungsdienstleisters umweht den DAX ein Hauch von Silicon Valley.
Zwei Jahre später, am 23. Juni 2020, tritt Markus Braun, begleitet von zwei Anwälten, um 19:30 Uhr über die Türschwelle der Staatsanwaltschaft München I, um sich verhaften zu lassen. Das von ihm geführte Unternehmen soll Bilanzen gefälscht, Anleger getäuscht und Behörden gelinkt haben. Es ist das Ende eines rauschenden Börsenmärchens. Aufstieg und Scheitern können nah beieinander liegen.
Wirecard: Vom Shopping-Boom profitiert
Die Wirecard AG kannte viele Jahre nur eine Richtung: nach oben. Wie kein anderes Unternehmen profitierte das Unternehmen aus Aschheim bei München vom Shopping-Boom. Wickelte man um die Jahrtausendwende noch kleinere Beträge von Porno- und Glückspielseiten ab, hatte Wirecard zuletzt Kunden wie die Fluggesellschaft KLM, den Kreditkartenanbieter Visa oder die Telefongesellschaft Orange im Portfolio.
Das Prinzip ist einfach wie genial. Wirecard kümmert sich um die technische Abwicklung von Zahlungsvorgängen. Anstatt dass Händler für die Zahlung per Kreditkarte, Lastschrift oder Paypal mit jedem einzelnen Anbieter Verträge abschließen müssen, bündelt Wirecard diesen Vorgang mit einem weltweiten System. Bei jedem Sneakerkauf, jeder gebuchten Flugreise oder jeder bargeldlos bezahlten Taxifahrt erhält das Unternehmen eine Provision.
Akkumuliert ist das ein riesiges Geschäft - und es ist längst noch nicht ausgereizt. Ganze Kontinente warten nur darauf, vom Online-Shopping-Boom erfasst zu werden. Wirecard wollte diese Früchte einsammeln.
Konzernlenker Braun scheute einerseits das Rampenlicht und twitterte andererseits seine Botschaften so offensiv wie kaum ein zweiter DAX-Chef in die Welt. Wenn er kommunizierte, lieferte er die Schlagworte, die man an der Börse gerne hört: Daten, Künstliche Intelligenz, Internet der Dinge. Seine kühnen Visionen untermauerte er mit grandiosem Wachstum.
Die eigene Prognose von 30 Prozent wurde Jahr für Jahr übertroffen, der Aktienmarkt bedankte sich mit regelmäßigen Kurssprüngen. In New York, wo traditionelle deutsche Börsenwerte wie Lufthansa, Deutsche Bank oder ie Post sonst belächelt werden, nimmt man Wirecard neben SAP als einzigen Konkurrenten für das Silicon Valley wahr.
Alle Warnungen ignoriert
Die schöne Wachstumsstory bekam erste Flecken, als Wirtschaftsreporter der "Financial Times" Wirecard im vergangenen Jahr in rund 40 Artikeln Geldwäsche, Manipulation und frisierte Bilanzen vorwerfen. In Aschheim reagierte man auf die Anschuldigungen aggressiv und ließ einzelne Reporter sogar von Detektiven überwachen. Öffentlich warf man der Zeitung vor, gemeinsame Sache mit sogenannten Leerverkäufern, die auf fallende Kurse setzen, zu machen und den Aktienkurs absichtlich zu drücken.
Bei der deutschen Bankenaufsicht Bafin fand man für diese Version Fürsprecher. Die Behörde mit rund 2.700 Mitarbeitern setzte ein temporäres Leerverkaufsverbot durch und erstattete Anzeige gegen beteiligte Journalisten und Anleger. Der Vorwurf: Marktmanipulation.
Doch mit dem Einstieg des Großinvestors Softbank stieg der Druck auf Wirecard. Die Japaner forderten mehr Transparenz. Der Vorstand engagierte daraufhin rund 40 Experten der Wirtschaftsprüferkanzlei KPMG, die die Konzernabschlüsse von 2016 bis 2018 forensisch durchleuchteten. Die Hoffnung: KPMG bestätigt, dass in den Bilanzen alles in Ordnung ist.
Wirtschaftsprüfer erstellen ein vernichtendes Gutachten
Das Gegenteil passierte. In einem vernichtenden Gutachten schrieben die Wirtschaftsprüfer, dass Wirecard viele Unterlagen erst spät oder gar nicht herausgegeben habe und Geldströme im Geschäft mit Drittpartnern nicht nachvollziehbar seien. Das 74-seitige Ergebnis war ein Desaster.
Gleichzeitig untersuchten die Bilanzprüfer von EY, die seit mehr als einem Jahrzehnt für Wirecard arbeiteten, den Konzernabschluss des vergangenen Geschäftsjahres. Von zwei Banken auf den Philippinen verlangten sie eine Bestätigung dafür, dass auf Wirecard-Konten 1,9 Milliarden Euro liegen. Doch die Konten gab es offenbar nicht.
Als Wirecard die Bilanzvorstellung am vergangenen Donnerstag absagte, setzte ein regelrechter Exodus bei Anlegern, Kunden und kreditgebenden Banken ein.
Sieben Milliarden Euro Börsenwert vernichtet
Innerhalb eines Tages rauschte der Wirecard-Aktienkurs um fast 75 Prozent nach unten, und mit ihm rund sieben Milliarden Euro an Börsenwert. Wirecard-Chef Markus Braun trat kurz darauf zurück. Er und sein Vorstandskollege Jan Marsalek wurden mit Haftbefehl gesucht.
Während sich Braun gestellt hat, soll sich Marsalek derzeit in der philippinischen Hauptstadt Manila befinden, wo er angeblich auf der Suche nach den verschwundenen Milliarden ist. Mittlerweile hat die Wirecard AG Insolvenz angemeldet. Die Bank, die nur ein Teil des Unternehmens ist, wurde unter behördliche Aufsicht gestellt, ist aber von dem Insolvenzantrag nicht betroffen.
Mit dem Zusammenbruch von Wirecard steht Braun vor den Scherben seines Lebenswerks - und seiner Existenz. Mit rund sieben Prozent war der Wirtschaftsingenieur größter Einzelaktionär. Die Explosion des Börsenkurses hatte ihn zum Milliardär gemacht. Nach dem Absturz musste Braun einen großen Teil seiner Aktien mit Verlust verkaufen.
Neben Braun steht eine ganze Reihe von anderen Akteuren im Zentrum der Affäre, allen voran die Bankenaufsicht Bafin. Bis zuletzt hatte die Behörde darauf verzichtet, die Wirecard-Holding als Finanzinstitut einzustufen und die Wirecard einer Sonderprüfung zu unterziehen. Erst sechs Wochen nach Erscheinen des desaströsen KPMG-Berichts soll die Entscheidung gereift sein, Wirecard komplett unter Aufsicht zu stellen.
Da war es schon zu spät. Behördenchef Felix Hufeld hat die Vorgänge mittlerweile als "totales Desaster" bezeichnet. Die Politik hat signalisiert, dass sie die Bankenaufsicht reformieren will. Und der Finanzausschuss im Deutschen Bundestag will noch vor der Sommerpause eine Untersuchung auf den Weg bringen.
Prozesslawine steht bevor
Auch auf die Wirtschaftsprüfer von EY könnte in den kommenden Monaten eine Prozesslawine zurollen, von Investoren, die Schadenersatz für ihre Verluste einfordern. Seit einem Jahrzehnt hatten die Wirtschaftsprüfer die Konzernabschlüsse geprüft und waren insbesondere für das Dubai-Geschäft des Unternehmens verantwortlich, das im Zentrum der Affäre steht.
Nicht zuletzt haben auch die Banken kein gutes Bild abgegeben. Analysten hatten mit immer ambitionierteren Kurszielen vor allem Kleinanleger in die Aktie getrieben und Optimismus versprüht, ohne die Vorwürfe von Leerverkäufern und Journalisten kritisch in ihre Analysen einzubeziehen.
Noch am 26. Mai, also wenige Wochen vor der geplatzten Bilanzvorstellung, setzte die Baader Bank ein Kursziel von 240 Euro und gab eine Kaufempfehlung ab. Auch die Ratingagentur Moody's entzog Wirecard erst ihr Kreditrating, als die Katastrophe bereits perfekt war.
Den größten Schaden tragen bei diesem Skandal aber die deutschen Sparer davon. Der Fall Wirecard hat viel Vertrauen zerstört. Die Versuche der Politik, die Aktienkultur als feste Säule für die Altersvorsorge zu etablieren, wurden womöglich um viele Jahre zurückgeworfen.
Verwendete Quellen:
- Der Spiegel: "Scholz kündigt Reform der Bafin an"
- Handelsblatt: "Wie Markus Braun Wirecard in die Insolvenz trieb"
- SZ: "Das Kartenhaus"
- FT: "Wirecard Stream"
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