Oberklasse-SUV sind in Deutschland eine knifflige Sache: margenträchtig, ja, aber mit Verbrenner eben auch teuer in der CO2-Statistik. Kia zieht sicherlich auch deswegen beim 4,81 Meter langen Sorento den Schlussstrich. Obwohl der in Gwangmyeong, einer Nachbarstadt von Seoul, gebaute Kia EV9 sogar fünf Meter Straße beansprucht, sind solche Grenzen bei ihm kein Thema. Wieso? Elektroautos zählen beim Flottenverbrauch ganz ohne Bodyshaming mit 0 g CO2/km. Und die 2.615 kg Leergewicht ohne Fahrer? Egal!
Video: EuroNCAP Crashtest 2023: Kia EV9
In seiner Fahrzeugklasse geht das locker als Normalgewicht durch, und der Kia EV9 kann sich zumindest auf die Fahne schreiben, dass er serienmäßig sieben Menschen unterbringt. Die bequeme Rückbank in der zweiten Reihe ist mit elektrischer Lehnenneigungsverstellung ausgerüstet, und um einen Zugang in die dritte zu schaffen, klappt sie teilelektrisch weg. Ganz hinten fahren die Sitze auf Knopfdruck aus und ein: Kinder sitzen dort ordentlich, Erwachsene zumindest deutlich besser als in den meisten Siebensitzern.
Außerdem bleibt noch ungefähr ein Kleinwagenkofferraum übrig und somit auch Knautschzone zu den Gepäckabteilplätzen, falls mal jemand hintendrauf rauscht. Wie sicher Passagiere dort sind, steht allerdings nicht im Euro-NCAP-Bericht. In den Videos der Unfalltests erkennt man aber, dass ganz hinten selbst dann Seitenairbags auslösen, wenn die Plätze unbelegt sind. Im Euro-NCAP-Sicherheitstest erreicht der Kia EV9 fünf von fünf Sternen (Schutzniveau Erwachsene: 84 Prozent; Kinder: 88 Prozent; Passanten: 76 Prozent).
Kia EV9 mit betont sicherem Handling
Die aktive Sicherheit geht mit einem Bremsweg von 35,1 Metern aus 100 km/h gut los. In Kurven lässt sich der Kia EV9 trotz eher rückmeldungsarmer, ansonsten unauffälliger Lenkung leicht steuern. Zu hohe Querkräfte quittiert er mit mittelstarken Schaukelbewegungen, die mit etwas Distanz zum Limit ausbleiben. Querdynamisch birgt die potenzielle Wucht des hohen Gewichts natürlich Gefahren, die das ESP zuverlässig erkennt. Wenn es auf der Hausstrecke über die fiese Welle in der Linksrechts geht, kappt das Stabilitätsprogramm sofort den Vortrieb, bremst radselektiv ab und hält den Dicken dramafrei in der Spur. Die Action regelt es damit weg, verhindert aber eben auch einen Satz in Richtung Felswand, was nicht allen Schwergewichten so sauber gelingt.
Unkritischere Biegungen durchkurvt er nicht ganz spaßbefreit, vorwiegend liegt das Freudepotenzial des EV9 aber in anderen Bereichen. Vor allem im Größer-ist-besser-Ansatz – also jetzt nicht wegen irgendwelcher Transportbedürfnisse, sondern einfach, weil der Koreaner in unserem Straßenbild zu den King-of-the-Road-Kolossen gehört. Seine Maße ufern aber noch nicht derart aus, dass man in ihn hochklettern müsste. Du sitzt mit 74 cm Entfernung zur Straße zwar höher als beispielsweise im BMW iX (67 cm) oder Mercedes EQS SUV (70 cm), aber eben noch nicht im Dachgeschoss wie etwa beim Pickup Ford Ranger (84 cm). Mächtig wirkt der Kia EV9 definitiv auch vom gemütlichen Fahrerplatz, schon weil die gewaltige Fronthaube prominent im Sichtfeld liegt. Da siehst du schon viel von der matten Ocean-Blue-Lackierung, die als pflegeleichtere Metallic-Version gar keinen statt 1.800 Euro Aufpreis kostet.
Ladesprinter, aber Stromfresser
Technologisch betrachtet liefert das 800-Volt-Ladesystem die größte Freude, weil eine 10-auf-80-Prozent-Schnellladung des alternativlosen 99,8-kWh-Akkus mit 183 kW im Schnitt erfolgt – viele andere E-Autos laden nicht mal in der Spitze derart stark. Dennoch vergehen dafür 26 Minuten, und das trotz der üppigen Kapazität ziemlich häufig, weil der Kia EV9 richtig Strom weghaut: 35,3 kWh/100 km bei 5 Grad Celsius Außentemperatur und der Klimaanlage auf 21 Grad. Die Testreichweite? 297 Kilometer. Auf Fernreisen geht’s unter diesen Bedingungen ungefähr im 200-Kilometer-Takt zum Lader, wenn du dort immer auf 80 Prozent lädst. Und das bei dem fetten Akkupaket plus serienmäßiger Wärmepumpe? Enttäuschend.
Nun gut, wenn du mal ein bisschen mehr Tempo machst, zieht der Kia EV9 in 22,4 Sekunden zügig von 100 auf seine 200-km/h-Vmax, mit der er auch leichte Autobahnkurven entspannt bewältigt. Bei hohen Geschwindigkeiten beschleunigt er durchaus schnell, aber nur im niedrigen Tempobereich wirken Vollstromsprints richtig zackig: von 0 auf 50 km/h in zwei Sekunden. Die vollen 700 System-Nm sind übrigens an die GT-line gekoppelt; ansonsten leistet die Allrad-Doppelmotor-Version zwar ebenso 385 System-PS, begnügt sich aber mit 100 Nm weniger.
Den EV9 bietet Kia nur sehr oder außergewöhnlich umfangreich ausgestattet an. Selbst die Basisversion beheizt und belüftet vier der sieben Sitze, dazu gibt es eine anständig klingende 14-Lautsprecher-Anlage von Meridian sowie Kunstledersitze, die Kia als vegan beschreibt. Zig Assistenzsysteme sind eh klar, die 230-Volt-Steckdose im Kofferraum sowie die Dreizonen-Klima hingegen nicht. Die pustet in die zweite und dritte Sitzreihe aus insgesamt vier Ausströmern im Dach. Der Luftstrom ist zwar ausreichend stark, wird aber selbst bei Maximaltemperatur nur halbwegs warm. Vorne ist es wärmer, und frieren muss niemand.
GT-line: ja oder nein?
Für 5.890 Euro extra bietet die GT-line eine elektrische Lenksäule, Komfortsitze mit Massagefunktion, ein Head-up-Display sowie eine 360-Grad-Kamera inklusive Totwinkelkamera plus Rückspiegel mit Videomodus-Option. Diese Extras liefert Kia auch in Paketen ohne die GT-line, die exklusiv 21-Zoll-Vierspeichenfelgen und adaptive LED-Scheinwerfer trägt. Diese leuchten im Adaptivmodus die Autobahn weniger eindrucksvoll und stark aus als Topsysteme anderer Hersteller, über Land ist die Funktion aber durchaus nützlich.
Serienmäßig steckt im Kia EV9 ein Vierspeichenlenkrad. Wenn die Lenksäule ganz unten steht, hast du noch immer viel Knieraum. So positioniert kannst du die Ellenbogen auf den Armlehnen abstellen und halbwegs bequem in die unteren Lenkradspeichen greifen – besser wäre allerdings, die Säule führe noch etwas weiter aus. Der Lenkradkranz ist aber auch oben abgeflacht: Je nach Position überdeckt er den oberen Teil des Digitalinstruments und auch ein Stück des Totwinkel-Kamera-Bilds, das beim Blinken eingeblendet wird. Ein rundes Lenkrad wäre also besser, auch beim Kurbeln der drei Umdrehungen. Wendekreis? 12,9 Meter.
Einige Tasten, viel Touch
Etwas zur Seite beugen musst du dich, um zwischen den beiden Monitoren das Touchfeld für die Klimasteuerung zu sehen. Oft tatschst du darauf nicht rum, weil es für Lüfterstärke, Temperatur sowie Sitzklimatisierung und Lenkradheizung separate Tasten gibt, genau wie für Auto Hold, Parkpiepser plus -kameras sowie die elektrisch betätigte Ladeklappe. Auf der Direktwahl-Touchleiste unterhalb des Monitors musst du die Beschriftungen ziemlich fest drücken, bis die Bestätigung via Vibration auslöst. Komfortabel ist das nicht, es verhindert aber meist Fehleingaben. Die griparme Lautstärkewalze darunter kann auch als Zoomrad für die Navikarte eingestellt werden.
Etwas zur Seite beugen musst du dich, um zwischen den beiden Monitoren das Touchfeld für die Klimasteuerung zu sehen. Oft tatschst du darauf nicht rum, weil es für Lüfterstärke, Temperatur sowie Sitzklimatisierung und Lenkradheizung separate Tasten gibt, genau wie für Auto Hold, Parkpiepser plus -kameras sowie die elektrisch betätigte Ladeklappe. Auf der Direktwahl-Touchleiste unterhalb des Monitors musst du die Beschriftungen ziemlich fest drücken, bis die Bestätigung via Vibration auslöst. Komfortabel ist das nicht, es verhindert aber meist Fehleingaben. Die griparme Lautstärkewalze darunter kann auch als Zoomrad für die Navikarte eingestellt werden.
Das Infotainment-System sortiert Kia im Hauptmenü mit großen Kacheln übersichtlich. In darunterliegenden Ebenen muss der Finger vorwiegend eher kleine Textflächen treffen, was während der Fahrt länger ablenkt, auch weil der Touchscreen weit vom Fahrer entfernt positioniert ist. Auf diese Entfernung wird der Text in Google Maps oder Apple Karten teils sehr klein, nur in der Navi-Software von Kia lässt sich die Schrift größer einstellen.
Die Sprachsteuerung bietet schon genug Befehle, die teilweise jedoch arg spezifisch benannt sein müssen: "Klangeinstellungen", "Audioeinstellungen" oder "Equalizer-Einstellungen" klappt alles nicht, nur "Einstellungen, Equalizer" öffnet das gewünschte Menü. Auch für die Zielführung kannst du nicht einfach drauflosquatschen, wie du es dir eigentlich wünschen würdest.
Zur Tortur wird irgendwann, dass du nach jedem Motor-Neustart das Tempolimitüberschreitungsgebimmel abschalten musst, was nicht mal eben so möglich ist. Diese Warnung fordert eine unsinnige EU-Vorschrift, die den Stand der Technik einfach ignoriert. Selbst die besten Verkehrszeichen-Erkennungssysteme, zu denen das im Kia EV9 nicht gehört, arbeiten keineswegs fehlerfrei. Und das des Kia erfasst auf unserer Testroute fast keine der komplexeren Situationen richtig.
Weitere Assistenz warnt im Rückwärtsgang per Lenkradvibration zuverlässig vor Querverkehr. Auf der Autobahn zumindest funktioniert die aktive Spurführung überwiegend zuverlässig, und mit der kapazitiven Erkennung am Volant bleiben unberechtigte Bitte-Hände-ans-Lenkrad-Warnungen aus. Der Spurhalteassistent arbeitet jedoch zu empfindlich und stört den Fahrfluss speziell über Land häufiger. Wenigstens klappt das Abschalten über eine Lenkradtaste vorbildlich.
Top Rekuperation, guter Komfort
Außerdem hervorragend: die Bedienung der Rekuperationsstufen über die Lenkradwippen. Freilauf, Automatik, Einpedalmodus und diverse Zwischenstufen sind anwählbar. Der iPedal-Modus setzt geschmeidig ein, hält den Wagen absolut ruckfrei an und erreicht hohe Verzögerungswerte. Das ordentlich dosierbare Bremspedal benutzt man darin nur selten.
Dieses hohe Komfortniveau erreicht das passiv gedämpfte Stahlfederfahrwerk nicht, weil es Straßenschäden nie ganz wegbügelt und manche davon auch mal sehr deutlich in die Fahrgastzelle überträgt. In den meisten Situationen bleibt die Karosserie dennoch ruhig, unangenehm wird’s im Kia nie. Ein Komfort-Plus sind die sogar in der Lehnenbreite verstellbaren Sitze, die – für
Nickerchen während der Ladepausen – zudem mit einer ausfahrbaren Beinauflage ausgerüstet sind.
Praktisch, viel Ausrüstung
Das zahlt aufs Funktionalitätspunktekonto ein, ebenso die Reifendruckanzeige, die das manuelle Prüfen erspart. Oder die Gegensprechanlage, die Unterhaltungen von ganz hinten nach vorne erleichtert. Oder der 230-Volt-Adapter, mit dem der Kia auch Strom abgeben kann, etwa zum Betrieb eines Elektrogrills. Der Adapter kommt im 52 Liter fassenden Frontkofferraum unter. Innen gibt’s zwei 12-Volt-Anschlüsse, sechs USB-C-Buchsen und eine Haushaltssteckdose. Ablagen? Zahlreich vorhanden, nur fassen selbst die vorderen Türtaschen keine großen Flaschen.
Der Kia EV9 bietet zwar eine eher eingeschränkte Reichweite, ansonsten aber viel mehr als nur gute Fahr- und Ladeleistungen. Jedoch steht schon das Basismodell mit 204-PS-Heckantrieb für
72.490 Euro im Konfigurator. Mit zwei Motoren steigt der Preis um 4.000 Euro, der GT-line liegt bei 82.380 Euro – noch so eine Grenze, die Kia für den EV9 verschiebt.
© auto motor und sport
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