Shneechaos, Krankheit – beim Granfondo La Stelvio Santini lief für Redakteur Moritz wenig nach Plan. Ein Erlebnis und ein würdiger Abschluss des Projekts "Training nach Plan" war das Event dennoch.
Oft lesen sich Berichte von Radmarathons folgendermaßen: Als Texteinstieg schildert der Protagonist den schwierigsten Moment der Teilnahme, also jenen Augenblick, an dem das Gelingen des Unterfangens auf Messers Schneide steht. Als Gründe kommen allgemeine Formschwäche, ein Hungerast oder gar ein Sturz infrage. Es folgt ein Rückblick, wie der Protagonist in die bedrohliche Situation kommen konnte. Die Geschichte endet mit der heldenhaften Überwindung der beschriebenen Herausforderung: erfolgreiches Finish, gute Platzierung oder Erreichen der vorgestellten Zielzeit. Happy End. Vorhang. Applaus.
Bei mir steht die erfolgreiche Teilnahme beim Granfondo La Stelvio Santini hingegen schon Tage vor dem Event auf Messers Schneide: Halsschmerzen, Kopfschmerzen, verstopfte Nase, verschleimte Atemwege. Mich hat’s ordentlich erwischt. Acht Tage lang sitze ich statt auf dem Rad vorm Inhaliergerät. Stopfe Schleimlöser, Zinktabletten und Vitamine in mich hinein. Und blase Trübsal. Denn der Granfondo sollte doch eigentlich mein großes Saisonziel werden. Kulminationspunkt der sechsteiligen Artikelserie "Training nach Plan", für die mich das Radlabor gecoacht und subjektiv auch richtig fit gemacht hat.
Da es mir am Anreisetag wieder etwas besser geht und ich kein Fieber hatte, bekomme ich grünes Licht. Und mache mich mit Redakteurskollege Eric auf den Weg nach Bormio. Klar ist aber schon jetzt: Statt um eine gute Platzierung geht es für mich hier nur noch ums Ankommen. Unterwegs erreicht uns die nächste Hiobsbotschaft: Wegen 50 Zentimetern Neuschnee am Stilfser Joch muss der Veranstalter die Bergankunft an die Laghi di Cancano verlegen, 700 Höhenmeter tiefer gelegen. Für mich vielleicht sogar eine gute Nachricht.
Die Atmosphäre vor einem Radmarathon packt mich trotz meiner körperlichen Gebrechen: Rennradfahrerinnen und -fahrer aus aller Welt prägen das Straßenbild in Bormio, an vielen Rennmaschinen sind bereits Startnummer und Zeitmess-Chip montiert. Richtungspfeile an Kreuzungen weisen die Strecke aus, Werbebanner und Absperrgitter sind schon aufgestellt. Am Tag vor dem Rennen pedalieren Eric und ich mit Dutzenden Gleichgesinnten die imposante Stelvio-Passstraße hinauf, soweit der Schnee es erlaubt – wenn wir schon mal da sind, müssen wir den Stelvio auch fahren, so lautet nicht nur unsere Überzeugung.
Meine Beine fühlen sich an wie Pudding, der Respekt vor dem Granfondo ist riesig. Und er wird nicht kleiner, als uns abends Daniele Schena, der Besitzer des Hotels Funivia, in dem wir abgestiegen sind, eröffnet: "Der Guspessa ist härter als die klassische Mortiroloauffahrt." Da Daniele die Gegend kennt wie seine Westentasche, schon Hunderte Male mit dem Rennrad den Stelvio bezwang und in seinem Hotel nicht selten Radprofis beherbergt, gibt es keinen Grund, an seiner Einschätzung zu zweifeln.
Zu allem Überfluss nieselt es am nächsten Morgen. Pünktlich zum Start. "Keine Sorge, wir erleben einen sonnigen Tag", verspricht die Moderatorin. Sie soll recht behalten: Nachdem exakt um 7.30 Uhr früh der Startschuss erfolgt, dauert es nur drei Kilometer, bis die Straße trocken ist – und für den Rest des Tages bleibt.
Die ersten 17 Kilometer das Tal hinab fahre ich weit vorn im Peloton an Danieles Hinterrad. Doch am ersten Anstieg in Sondalo entschwinden Daniele und auch Eric nach vorn, während ich in den Überlebensmodus schalte: kleine Gänge, niedrige Intensität. Körner sparen, regelmäßig Energie nachtanken. Trotzdem fühle ich mich fürchterlich.
Kaum besser läuft es am zweiten Anstieg nach Rogorbello, der mit über zehn Prozent Durchschnittssteigung ein erster Vorgeschmack auf den Guspessa/Mortirolo ist. Ich bin zu warm angezogen, würge die Kurbel trotz Untersetzung im kleinsten Gang nur mit Mühe herum. Ständig werde ich überholt. Meine Gedanken kreisen: Überflüssige Bekleidung am Straßenrand deponieren und morgen mit dem Auto abholen? Aufgeben und in Tirano in den Bus zurück nach Bormio steigen?
Erst mal fahre ich weiter und verpflege mich so gut es geht. Im Guspessa-Anstieg lege ich Zehenwärmer, Halstuch und Handschuhe ab, finde meinen Rhythmus – und habe zum ersten Mal das Gefühl, dass es doch mit dem Finishen klappen könnte. Aber Daniele behält recht: Die Guspessa-Auffahrt auf den Mortirolo ist knallhart, 11,5 Prozent Durchschnittssteigung auf über zehn Kilometern. Meine Geschwindigkeit pendelt zwischen sechs und acht km/h, auch jetzt werde ich laufend überholt.
Einen so langen, so steilen Anstieg bin ich noch nie gefahren! Die Sinnfrage "Warum tust du dir das an?" stelle ich mir zwar nicht, denn ich bin ja aus voller Überzeugung und freiwillig hier, doch eine gewisse Sympathie für Octave Lapize, der einst am Tourmalet die Streckenplaner der Tour de France als Mörder beschimpfte, empfinde ich schon.
Das ganz dicke Ende wartet oben: Die letzten anderthalb Kilometer wurden erst vor zwei Jahren für den Giro d’Italia U23 asphaltiert, lange Rampen mit 15 Prozent Steigung zwingen nicht wenige Teilnehmer zum Anhalten, einige müssen bis zur Passhöhe schieben. Ich komme zwar fahrend oben an, bin aber heilfroh, dass die Kammstraße Richtung Mortirolo-Passhöhe nach einer letzten, flacheren Kehrengruppe leicht bergab führt. Atemberaubende Tiefblicke ins Tal, wunderschöne Fernblicke auf schneebedeckte Gipfel, dazu schmerzfrei knapp 30 km/h auf dem Tacho – so lässt es sich aushalten.
Vom Mortirolo geht es in rasender Fahrt hinab ins Tal – über jene Abfahrt, die zwei Wochen zuvor auch bei der Königsetappe des Giro d’Italia auf dem Programm stand. Hektik kommt nicht auf, denn die Rangliste des Rennens basiert allein auf den gefahrenen Zeiten an den drei Anstiegen Rogorbello, Guspessa und Cancano – auf den Abfahrten und Flachstücken kann man nichts gewinnen.
Im Tal decke ich mich bei der Verpflegungsstelle in Tiolo ein und finde gleich eine Gruppe, mit der ich die gut 20 Kilometer talaufwärts nach Bormio angehen kann. Ein zähes Unterfangen, gewürzt mit einem weiteren Anstieg mit zehn Prozent Durchschnittssteigung.
Dann sind wir endlich in Bormio, wo der beeindruckende Schlussanstieg über knapp zwei Dutzend Serpentinen zu den Torri di Fraele und den Cancano-Seen ansteht. 2020 haben sich beim Giro hier Tao Geoghegan Hart und Jai Hindley duelliert, nun zieht sich eine nicht enden wollende Schlange von Rennradfahrerinnen und -fahrern den Berg hinauf.
Die Steigung zu den Laghi di Cancano ist erträglich: zwischen sechs und acht Prozent. Doch der steile Guspessa erweist sich als Wadenbrecher: Druck aufs Pedal kriege ich nicht mehr, es geht nur noch darum, irgendwie oben anzukommen. Dort, wo die Fraele-Türme über das Tal wachen und die Straße abenteuerlich in Tunneln durch den Berg führt. Nicht der Stelvio – aber ein würdiger Ersatz.
Eine letzte Kraftanstrengung, dann rolle ich mit breitem Lächeln am See entlang in Richtung Ziellinie. Doch ein Happy End! Und auch wenn manches anders lief als geplant: ein unvergesslicher Tag im Sattel! Und ein würdiger Abschluss des Selbstversuchs "Training nach Plan"!
Diese Reportage findet Ihr auch in ROADBIKE 08/24. Die Ausgabe enthält ein Stelvio-Spezial mit verschiedenen Artikeln rund um das Stilfser Joch, die Königin der Alpenstraßen und Sehnsuchtsort für tausende Rennradfahrerinnen und -fahrer. © Bike-X
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