Um sich zu vergegenwärtigen, gegen wen die deutsche Nationalmannschaft gestern Abend da gestümpert hat, reicht ein flüchtiger Blick auf die Tabelle. Liechtenstein ist Letzter in der Europa-Gruppe J der WM-Qualifikation - mit vier Niederlagen in vier Spielen und 1:12 Toren. Gegen Deutschland reichte es trotzdem zu einem beachtlichen Ergebnis - zu einem 0:2.

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Dummerweise fehlt den Deutschen jetzt Joachim Löw als Sündenbock. Man kann die Schuld am dominanten, aber letztlich biederen Gekicke auch nicht seinem Nachfolger Hansi Flick in die Schuhe schieben, es war sein erstes Länderspiel in verantwortlicher Position. Man bekommt ein flaues Gefühl: Vielleicht sind wir wirklich nicht so gut, wie wir immer glaubten.

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Die Kader-Qualität verpflichtet

Die WM-Blamage von 2018 hielten wir für einen Betriebsunfall, das frühe EM-Aus von 2021 lasteten wir der Sturheit des Bundestrainers an. Dazwischen die Magerkost in der Nations League: Angeblich so wertlos wie der Wettbewerb selbst. Doch Ausreden taugen nix mehr: Auch ohne Manuel Neuer und Thomas Müller muss man Liechtenstein auseinandernehmen.

Das Urteil ist keine Überheblichkeit, sondern dem Faktum entlehnt, dass Liechtenstein 38.000 Einwohner hat und darum nur eine begrenzte Anzahl von Fußballern, die einem viermaligen Weltmeister die Stirn bieten können. Hansi Flick dagegen bot die beste Auswahl von 41 Millionen Männern aus Deutschland auf. Die schaffte immerhin zwei Tore mehr als Liechtenstein.

Wenig Zeit für Experimente

Vermutlich begreift Hansi Flick jetzt die Schwere seiner Aufgabe. Bei Bayern konnte die beste Elf aus einem internationalen Star-Ensemble aufstellen und notfalls Verstärkung vom Transfermarkt einfordern (okay, anderes Thema). Diese Option hat er bei der Nationalelf nicht, hier ist Bestandspflege gefragt. Er wird noch feststellen müssen, auf wen er sich verlassen kann.

Man kann den Abend folglich als Anlaufschwierigkeit werten, wie es schon andere Bundestrainer vor ihm erlebt haben, sogar der große Franz Beckenbauer. Nur viel Zeit zum Probieren bleibt nicht. Die WM 2022 in 14 Monaten, die Heim-EM 2024 und Sonntag die nächste schwere Aufgabe: Armenien - der ungeschlagene Tabellenführer der WM-Gruppe J.

Pit Gottschalk ist Journalist und Buchautor. Seinen kostenlosen Fußball-Newsletter Fever Pit’ch erhalten Sie hier.
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