Seit Monaten wächst auf der Insel Rügen Widerstand gegen die Pläne der Bundesregierung für ein Flüssigerdgas-Terminal. Mit Protesten, Petitionen und einer Klage wehren sich die lokale Politik, Hoteliers, Unternehmer und Anwohner. Auch ein Besuch von Kanzler Olaf Scholz und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck konnte die Wogen nicht glätten. Kritiker fürchten um die Umwelt und den für Rügen besonders wichtigen Tourismus.

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Die Bundesregierung treibt seit Monaten den Aufbau einer eigenen Importstruktur für Flüssigerdgas (LNG) mit Tempo voran, um ausbleibende Gaslieferungen aus Russland zu ersetzen. So soll ein LNG-Terminal vor oder an Rügens Küste im vorpommerschen Lubmin an das Gasfernleitungsnetz angebunden werden. Dort treffen mehrere Leitungen aufeinander, die ursprünglich mehrere Milliarden Kubikmeter Gas aus der deutsch-russischen Pipeline Nord Stream 1 verteilten.

Von dort kann Gas unter anderem nach Süddeutschland weitergeleitet werden. Nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums schafft eine LNG-Infrastruktur an der ostdeutschen Küste zudem Importmöglichkeiten für mittel- und osteuropäische Nachbarn, die bislang durch russisches Gas versorgt wurden und diese Mengen nun ebenfalls kompensieren müssen.

Protestplakat: "Stopp dem LNG-Wahnsinn"

Doch gegen das Vorhaben regt sich mehr und mehr Widerstand. "Stopp dem LNG-Wahnsinn" oder "Stoppt Über-Flüssiggas. Baut Erneuerbare" ist auf Plakaten der Gegner des Projekts zu lesen. Mit letzterem Appell protestierte am Wochenende Klimaaktivistin Luisa Neubauer mit anderen Demonstranten der Klimabewegung Fridays for Future sowie Einheimischen und Gemeindevertretern gegen die Terminal-Pläne.

600 Demonstranten taten ihren Unmut kund, als kürzlich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) bei einer Gesprächsrunde auf Rügen das Vorhaben verteidigten. Allein mit den Terminals an der Nordseeküste, mit Importen über westeuropäische Häfen und über Pipelines aus Norwegen komme man nicht zurecht, sagte Scholz. Man brauche auch im Osten Deutschlands Importinfrastruktur. "Denn es geht um Versorgungssicherheit für den Osten Deutschlands."

Auf die Frage unserer Redaktion, warum die Regierung trotz des Widerstandes an den LNG-Plänen festhalte, antwortete Wirtschaftsminister Habeck in der Bundespressekonferenz: "Wir sind noch nicht durch mit dem Thema Energiesicherheit." Er wies Vorwürfe zurück, es würden Überkapazitäten für Flüssigerdgas aufgebaut. Deutschland sei energietechnisch "noch lange nicht da, wo wir einmal waren". Außerdem müsse immer ein "Sicherheitspuffer" mitgeplant werden, sagte Habeck.

Bei einer Wahlkampfveranstaltung in Bremen am Dienstagabend folgte dann die Kehrtwende: Das Bundeswirtschaftsministerium plane mit mehr LNG-Terminals für den Gas-Import als aktuell nötig seien, schreibt der Tagesspiegel. „Ja, wir planen mit einer Überkapazität, das tun wir“, sagte Habeck auf eine Frage aus dem Publikum und ergänzte: „Und das halte ich auch für richtig.“

Durch die drei schwimmenden LNG-Terminals in Wilhelmshaven, Brunsbüttel und Lubmin habe man bislang nur eine Import-Infrastruktur für zwölf Milliarden Kubikmeter Gas aufgebaut. Zusätzlich seien in den Niederlanden acht Milliarden Kubikmeter hinzugekommen. „Es fehlen also noch 35“, sagte Habeck in Bremen.

Besuch der Bundesregierung beruhigt die Kritiker nicht

Der Regierungsbesuch konnte die Wogen im Norden nicht glätten: Die seit Monaten auf der Insel aktiven Gegner planen weitere Aktionen. Es gibt sogar eine Bundestagspetition neben der Petition "Gegen den Bau von Europas größten LNG-Terminals direkt vor Rügen" der Rügener Bürgermeister, die fast 250.000 Menschen auf change.org unterschrieben haben. Darin fordern die Unterzeichner, "die vor der Küste Rügens geplanten zusätzlichen LNG-Terminals nicht in das LNG-Beschleunigungsgesetz aufzunehmen".

Eine solche Gesetzesänderung hätte weitreichende Folgen, würde dadurch doch ein LNG-Terminal auf Rügen als priorisiertes Vorhaben eingestuft und so der Weg für ein schnelleres Genehmigungsverfahren geebnet werden.

61.000 Menschen unterzeichneten die Bundestagspetition – 50.000 Unterstützer waren nötig. Deshalb werden die Einreicher der Petition nun am 8. Mai öffentlich vom Petitionsausschuss des Bundestags angehört, sagt der Tourismusdirektor der Gemeinde Ostseebad Binz, Kai Gardeja, unserer Redaktion.

Lebensraum von Schweinswal und Kegelrobbe gefährdet

"Fossile Energie und Fracking sprechen gegen Naturschutz. Wir wollen unsere naturnahe Landschaft für die Zukunft sichern", erklärt Gardeja die Gegenwehr. Emissionen, Schadstoffe, Lärm und Verkehr – all diese Dinge würden durch den Bau einer Pipeline und eines Flüssiggas-Terminals Flora und Fauna schädigen, insbesondere den Lebensraum von Schweinswal und Kegelrobbe.

Dem können Umweltverbände und Naturschützer nur zustimmen. "Das geplante Flüssiggas-Terminal vor Rügen soll mitten in einem Meeresschutzgebiet entstehen. Das würde Teile des Meeresbodens zerstören und den bereits belasteten Greifswalder Bodden, seine Lebensräume und dort heimische Arten gefährden", warnt etwa der Naturschutzbund Deutschland (Nabu).

Angesichts der massiven Proteste hat das Bundeswirtschaftsministerium von dem ursprünglich geplanten Standort rund fünf Kilometer vor der Küste Sellins Abstand genommen. Stattdessen bevorzugt es nun offenbar den Hafen von Mukran als Alternative. Auch ein Terminal weiter draußen auf der Ostsee vor Rügen wurde diskutiert. "Die Standortentscheidung soll so schnell wie möglich gefällt werden", teilte das Bundeswirtschaftsministerium erst kürzlich mit.

Tourismuschef Gardeja: "Das Projekt passt nicht zu den Bedürfnissen der hier lebenden Menschen"

Auch dagegen gibt es Widerstand. In einem gemeinsamen Appell sprechen sich Umweltverbände gegen den neuen Standort sowie gegen andere Offshore-Standorte in der Ostsee aus. Denn sowohl küstennahe als auch küstenferne LNG-Standorte bei Rügen würden "die verschiedenen Ökosysteme der Ostsee in erheblichem Maße und unwiderruflich schädigen und damit auch die Lebensgrundlage für Insel- sowie Meeresbewohner."

Gerade die intakte Natur sei die "DNA der Insel" für Touristen auf und um Rügen, sagt Gardeja. "Das Projekt passt nicht zu den Bedürfnissen der hier lebenden Menschen". 80 Prozent der Menschen in Mecklenburg-Vorpommern würden die LNG-Pläne ablehnen.

Dazu komme der Aspekt des Klimaschutzes: Bis 2030 will Mecklenburg-Vorpommern klimaneutral werden. Das erreiche man nicht mit dem Ausbau fossiler Energieträger, sondern regenerativer, erklärt der Tourismusbeauftragte. Als Vorbild nennt er die acht Windparks, die im Norden der Republik circa sieben Millionen Haushalte mit Strom versorgen.

Angst vor dem Verlust der Heimat

Neben den Auswirkungen auf Natur und Wirtschaft hätten viele Insulaner Angst, durch das LNG-Vorhaben ihre Heimat zu verlieren. Das liegt laut Gardeja auch an der dürftigen Kommunikation und dem verschlossenen Handeln der Bundesregierung. Die Anwohner würden zu wenig informiert und miteinbezogen. "Das beschädigt unsere Demokratiefähigkeit." Reichsbürger, Querdenker und andere "radikale Kräfte" hätten sich des Themas angenommen und die Menschen noch mehr verunsichert.

Eine gemeinsame Erklärung der Insel-Bürgermeister geht sogar noch weiter: "Die Politik versucht, teilweise im Verborgenen, Fakten an uns vorbeizuschaffen. Dazu gehört unter anderem auch das gezielte Einsetzen von Desinformationen, um die Menschen zu verunsichern und unsere Position aufzuweichen."

Transformationen – wie jetzt im Enegergiesektor – könne man nur mit den Menschen vor Ort schaffen – gemeinsam, transparent und mit ausreichend Zeit. "Die Politik rast aber gerade mit 130 Kilometer pro Stunde durch unsere 30er-Zone auf Rügen", kritisiert Gardeja.

RWE will sich aus LNG-Projekt zurückziehen

Das Projekt bewegt nicht nur die Inselbewohner und Naturschützer. War bisher der Energiekonzern RWE für die Umsetzung des umstrittenen LNG-Terminalprojekts zuständig, will sich dieser nach Berichten des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" von dem Projekt auf Rügen zurückziehen. Unklar sei bislang noch, wann und ob ein Ausstieg von RWE aus dem LNG-Projekt vor Rügen das Projekt gefährde.

Der größte deutsche Stromerzeuger wolle "nicht dauerhaft LNG-Infrastruktur betreiben", heißt es in der Antwort auf unsere Redaktions-Anfrage. Laut einem Sprecher geht RWE davon aus, dass "diese Aktivitäten absehbar an andere Akteure übergeben werden." Das sei dem Wirtschaftsministerium bekannt.

Als "Feigenblatt von weiteren fossilen Interessen" bezeichnet deshalb Gardeja den RWE-Rückzug. "Dem einen Player rutscht ein weiteres größeres Konsortium hinterher." Rega, Uniper und ein norwegisches Energieunternehmen seien im Gespräch.

Neben weiteren Demos, Aktionstagen und Infoveranstaltungen plant Binz bereits rechtliche Schritte. "Wenn die Bundesregierung weiter am Standort Mukran festhalte und das LNG-Terminal beantragen lasse, werde Binz als am stärksten betroffene Gemeinde klagen", verkündete Bürgermeister Karsten Schneider in einer Pressemitteilung am Freitag.

Verwendete Quellen:

  • Mit Material der Deutschen Presse-Agentur (dpa)
  • tagesspiegel.de: Habeck räumt LNG-Überkapazitäten ein: „Können nicht davon ausgehen, dass immer alles gut geht“
  • Gespräch mit Kai Gardeja, Tourismusdirektor der Gemeinde Ostseebad Binz
  • change.org: Gegen den Bau von Europas größten LNG-Terminals direkt vor Rügen #RügenGegenLNG
  • spiegel.de: Warum RWE auf Rügen kein LNG-Terminal mehr bauen will
  • Pressemitteilung von BUND Mecklenburg-Vorpommern, Deutsche Umwelthilfe (DUH), NABU Mecklenburg-Vorpommern und WWF Deutschland: Kein LNG-Terminal vor oder auf Rügen
  • Gemeinsame Erklärung der Bürgermeister der Insel Rügen und der Hansestadt Stralsund vom 28. April 2023
  • Anfrage an RWE-Pressestelle
  • Pressemitteilung: LNG-Terminals/Rügen: Ostseebad Binz mandatiert Dr. Reiner Geulen
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