Die Welt ist in Unordnung, sogar im Chaos, sagt der frühere Bundesaußenminister Joschka Fischer. In einem Interview des "Stern" fordert er die deutsche Regierung zu einer Führungsrolle auf – und formuliert hohe Erwartungen an den nächsten Bundeskanzler.
Fast 20 Jahre ist es her – da trat der selbsternannte "Rock’n‘-Roller" der Politik von der Bühne ab: Joschka Fischer gab damals sein Amt als Außenminister ab. Seit fast 20 Jahren ist er also Politik-Rentner, aber er redet noch immer gerne mit, wenn es um die Weltlage geht. Und zu der gibt es ja gerade einiges zu sagen.
Jetzt hat Fischer mit dem "Stern" (Bezahlinhalt) gesprochen. Seine zentrale Botschaft: Deutschland müsse eine Führungsrolle in Europa übernehmen. "Wir werden führen müssen, allein wenn man unser Potenzial, unsere Bevölkerungsgröße und die geopolitische Lage bedenkt, aber nicht allein", sagte er.
Nach seiner Einschätzung muss die deutsche Bundesregierung vor allem die Zusammenarbeit mit Frankreich wieder intensivieren. Aber auch Polen werde eine entscheidende Rolle spielen. Und drittens müsse Berlin auch mit Großbritannien wieder enger kooperieren – weil es noch die "Instinkte" einer Weltmacht habe.
"Führen ist verdammt schwer"
Fischer glaubt, dass die bisherige internationale Ordnung zerfällt. "Uns erwartet Chaos." Es werde eine Rivalität globaler Großmächte mit militärisch erzwungenen Grenzkonflikten geben – das sei die Folge von Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine. "Es wird eine gefährliche Welt sein", sagt Fischer.
Das Anführen müsse Deutschland wegen seiner Geschichte allerdings erst noch lernen, räumt der Grünen-Politiker ein. Sogar ein kleines Land wie die Schweiz habe ein anderes geostrategisches Selbstverständnis, "Wir haben da keine positive Tradition. Führen, das ist leicht gesagt, aber es ist verdammt schwer."
Eine große Aufgabe also – und eine hohe Erwartung an den möglichen nächsten Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU). "
Fischer für Wiedereinführung der Wehrpflicht
Der Grünen-Politiker Fischer war von 1998 bis 2005 Außenminister in der rot-grünen Bundesregierung. Er gehörte damals zu den beliebtesten Politikern des Landes, stieß aber in der eigenen Partei immer wieder auf Widerstand. Fischer sprach sich für Auslandseinsätze der Bundeswehr aus, zum Beispiel im Kosovo – über den Streit darüber wären die Grünen fast zerbrochen. Heute dagegen fordert praktisch die gesamte Partei deutlich höhere Verteidigungsausgaben und mehr Waffenlieferungen an die Ukraine.
Fischer spricht sich im Interview des "Stern" auch für eine Wiedereinsetzung der Wehrpflicht aus. 2011 hatte die damalige Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP sie ausgesetzt. "Ich war ein Befürworter der Abschaffung. Das war ein Fehler, den wir revidieren müssen", sagt Fischer dazu. Die Wehrpflicht müsse wieder eingeführt werden. "Und zwar für beide Geschlechter. Ohne diesen Schritt werden wir beim Schutz Europas nicht vorankommen." (fab)