Regeln und Gesetze in Deutschland unterscheiden sich zum Teil stark von Bundesland zu Bundesland. Grund ist der Föderalismus. Er ist Chance und Ungleichheit zugleich. Doch was wäre, wenn es ihn nicht gäbe?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Laura Czypull und Thomas Eldersch sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Warum bekommt mein Sohn in Nordrhein-Westfalen keinen Kita-Platz, während meine Schwester in Hamburg für ihr Kind sogar Gebühren erlassen bekommt?

Zwei Familien, zwei Bundesländer, zwei völlig verschiedene Lebensrealitäten – und das im selben Staat. Für Eltern nervenaufreibender Alltag, aber Teil eines größeren Prinzips: Folgen der föderalen Eigenständigkeit. Bildung, Sicherheit oder Gesundheit werden nicht von einer Regierung geregelt, sondern von 17. Dass der Bund nicht in allen Bereichen das Sagen hat, ist historisch gewollt, führt aber auch oft zu Ungleichheit, Verwirrung und politischem Streit.

Der Föderalismus hat direkte Auswirkungen auf den Alltag der Bürgerinnen und Bürger. Das verdeutlicht das Beispiel der Kita-Betreuung. In Hamburg ist die Kita-Betreuung bis zur Einschulung für bis zu fünf Stunden täglich beitragsfrei, inklusive eines warmen Mittagessens. Während in Nordrhein-Westfalen die Regelungen weniger großzügig sind.

Föderalismus: Demokratische Balance oder Bremsklotz?

In allen 16 Bundesländern werden die eigenständige Geschichte, Kultur und Identität gepflegt, auf den Autobahnen kennzeichnen Begrüßungsschilder das Überschreiten der jeweiligen Landesgrenze. Diese Vielfalt findet ihren staatlichen Ausdruck im Föderalismus: Die Deutschen leben in einem gemeinsamen Staatswesen, respektieren aber die regionalen Unterschiede.

Der Föderalismus soll verhindern, dass sich alle Macht in der Bundeshauptstadt konzentriert. Als ein Baustein der Demokratie steht er unter besonderem rechtlichen Schutz: Artikel 79, Absatz 3 des Grundgesetzes untersagt jegliche Verfassungsänderung, "durch welche die Gliederung des Bundes in Länder" oder "die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung" des Bundes "berührt werden". Oder anders ausgedrückt: Der Föderalismus kann mit der geltenden Verfassung nicht abgeschafft werden.

Der Bundesrat
Der Bundesrat vertritt die Interessen der Länder. © picture alliance/dpa/Bernd von Jutrczenka

Im Föderalismus haben sowohl der Bund als auch die Ebene darunter (im deutschen Fall die Bundesländer) eigene staatliche Aufgaben, eine eigene Regierung und ein Parlament. Beide Ebenen tragen Verantwortung für politische Entscheidungen. So entstehe ein stärkerer Rechtfertigungsdruck, sagt die Politikwissenschaftlerin Johanna Schnabel von der Freien Universität Berlin im Gespräch mit unserer Redaktion. Dadurch gebe es auch mehr Stabilität, Entscheidungen würden nicht so häufig wieder über den Haufen geworfen, wie es etwa bei Regierungswechseln in Großbritannien der Fall sei. Dort kann jede neue Regierung das Schulsystem theoretisch und teilweise auch praktisch ganz neu gestalten.

Baumininsterin Verena Hubertz (SPD)
Baumininsterin Verena Hubertz (SPD). © picture alliance/Andreas Gora

Der Föderalismus in Deutschland führt jedoch nicht selten zu Streit und Verzögerungen. Denn die Entscheidungsträger können sich auch gegenseitig auf den Füßen stehen. Auch im Bauwesen sei das Nebeneinander von Bund und Ländern "manchmal etwas knifflig", sagt Bundesbauministerin Verena Hubertz (SPD) auf Anfrage unserer Redaktion. Denn: Jedes Bundesland hat seine eigene Bauordnung, das verkompliziere etwa das länderübergreifende serielle und modulare Bauen. "Da sind wir mit den Ländern durch die Bauministerkonferenz im ständigen Austausch", sagt Hubertz.

"Gutes Bauen endet ja nicht an der Landesgrenze."

Bundesbauministerin Verena Hubertz

Denn das gemeinsame Ziel seien einheitlichere Standards, die das Bauen einfacher und günstiger für alle machten. Sie appelliert: "Gutes Bauen endet ja nicht an der Landesgrenze." Was gut klappe, könnten andere Länder einfach für sich anpassen und übernehmen. Für die Bauministerin heißt Föderalismus daher auch: "Kreativ sein, Neues ausprobieren, voneinander lernen und sich gut vernetzen. So entstehen die besten Lösungen."

Was, wenn es den Föderalismus nicht gäbe?

Föderalismus in Deutschland ist ein historisch gewachsenes Konstrukt, von dem sich schwer sagen lässt, ob es mehr Vor- oder Nachteile mit sich bringt. Doch was würde sich ändern, gäbe es ihn nicht?

Johanna Schnabel forscht an der Freien Universität Berlin zum Föderalismus und beschäftigt sich unter anderem mit solchen Fragen. "Eigentlich können wir Politik in Deutschland gar nicht ohne Föderalismus denken", sagt sie. Dafür bräuchte es eine neue Verfassung, denn der Föderalismus ist im Grundgesetz wie erwähnt mit einer sogenannten Ewigkeitsklausel verankert und kann somit selbst mit einer Zweidrittelmehrheit nicht abgeschafft werden.

Nehmen wir dennoch an, es gäbe den Föderalismus nicht: In unserem Szenario würde die Bundesregierung ein einheitliches Bildungssystem über Deutschland stülpen, vergleichbar mit Frankreich oder Großbritannien. Schnabel fand in einer Studie heraus, dass "regionale Bildungsungleichheiten in Föderalstaaten durchaus ausgeprägt sind". Aber auch in zentralistischen Staaten gebe es Ungleichheiten im Zugang zur Schule und in der Qualität der Bildung. "Paris weiß nicht immer, was Schulen auf dem Land benötigen", unterstreicht Schnabel.

Karin Prien: Es braucht Wettbewerb und Kooperation

Die Bildung ist im deutschen Föderalismus ein besonderer Streitpunkt. In der Bundesrepublik gibt es 16 unterschiedliche Schulsysteme. In der Kultusministerkonferenz können die Länder ihre Bildungspolitik zwar koordinieren. Sie gilt jedoch als "machtlose Ministerrunde". Denn ihre Zusammenkunft ist völlig unverbindlich. Kompromisse werden oft nicht umgesetzt, und einzelne Länder können hier Maßnahmen blockieren, wie etwa das ewige Vorhaben, einheitliche Bildungsstandards für das Abitur zu schaffen.

Bildungsministerin Karin Prien (CDU)
Bildungsministerin Karin Prien (CDU). © picture alliance / dts-Agentur

Bundesbildungsministerin Karin Prien (CDU) würde trotzdem nicht auf den Föderalismus verzichten wollen, wie sie auf Anfrage unserer Redaktion sagt. Er kann aus ihrer Sicht sowohl dem Bund als auch den Ländern helfen, gemeinsame Ziele zu erreichen. Ein Problem entstehe aber, wenn die Kooperation zwischen den Ländern ausbleibt. "Föderalismus ist dann kooperativ, wenn Länder bereit sind, voneinander zu lernen", sagt Prien. Wettbewerb und Kooperation sind aus ihrer Sicht gleichermaßen Voraussetzung für einen gelingenden, zeitgemäßen Föderalismus. "Und kooperativ ist er auch, wenn die Ebenen – Bund, Länder und Kommunen – jeweils in ihren Zuständigkeitsbereichen eng zusammenarbeiten und aufeinander abgestimmt sind, um gemeinsam das Beste für Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer und alle an Schule Beschäftigten zu erreichen."

Manch ein Bundespolitiker wünscht sich dennoch ein Land ohne Föderalismus, die Möglichkeit von oben nach unten "durchzuregieren". Damit müsse man aber vorsichtig umgehen, warnt Politikwissenschaftlerin Schnabel. "Wenn eine Person alle Entscheidungen trifft, hätten wir ein autoritäres System." Ohne die Verwaltungsebene Länder geht es deshalb in unserem System nicht. Zum Hintergrund: Abgesehen von Nordkorea und dem Vatikan gebe es keinen Staat mit nur einer Regierungsebene.

Bund und Länder: Untrennbar verflochten

Man dürfe auch nicht dem Irrglauben unterliegen, der Bund wisse immer alles besser, sagt Schnabel. Die Privatisierung der Bahn oder die Einführung der ineffizient arbeitenden Autobahn GmbH seien dabei gute Beispiele: Es braucht beide Ebenen als gegenseitige Kontrollinstanz. "Wenn die bayerische Landesregierung einen Fehler macht, müssen es die Menschen in Hamburg nicht ausbaden. Und wenn wir eine schlechte Bundesregierung haben, können es vielleicht die Länderregierungen ein wenig kompensieren", erklärt die Politikwissenschaftlerin.

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Wie eng die beiden Regierungsebenen verflochten sind, zeigte sich während der Corona-Pandemie. Aber eben auch bei der Bildung greift der Bund immer wieder ein, wie mit dem Digitalpakt Schule oder dem Gute-Kita-Gesetz. Schließlich verfügt er über größere, finanzielle Mittel als die Länder. "Bis vor kurzem durften die Länder nicht mal Schulden aufnehmen", sagt die Expertin. Das hat sich nun mit der Reform der Schuldenbremse geändert.

Eine Abschaffung des Föderalismus, wie es immer wieder gefordert wird: unrealistisch. Wie sieht es mit einer Reform aus? Wäre das System weniger kompliziert, wenn man Länder zusammenlegt? Hamburg als Teil Niedersachsens? "Das könnte einige Probleme wie die hohe Verschuldung mancher Länder lösen oder die große Anzahl der Behörden reduzieren", sagt Schnabel. Natürlich ist das derzeit kein ernsthafter Vorschlag, aber dieser Weg wäre möglich. Denn der Föderalismus ist kein starres Korsett, die Zuständigkeiten können jederzeit angepasst werden.

Verwendete Quellen