- Kurz bevor das Dorf Lützerath endgültig weggebaggert ist, kommt es noch einmal zum großen Showdown.
- Nur unter Aufbietung massiver Kräfte kann der Staat verhindern, dass Klimaaktivisten die schon in Auflösung begriffene Siedlung stürmen.
Es sind Bilder wie kurz vor einer mittelalterlichen Feldschlacht. In langen Reihen stehen sich die Gegner unter schwarzen Regenwolken gegenüber. Auf der einen Seite die überwiegend vermummten Demonstranten mit im Wind wehenden Fahnen und Transparenten über ihren Köpfen. Auf der anderen Seite die dunkel uniformierten Polizisten mit Schlagstöcken, Helmen und Schutzschilden. Und wie in lang vergangenen Zeiten geht es darum, einen strategisch wichtigen Punkt zu erobern - in diesem Fall ein kleines Dorf mit dem putzigen Namen Lützerath.
Ein Dorf, das es kurioserweise fast schon nicht mehr gibt. Denn zu eben dieser Stunde sind alle möglichen Einsatzkräfte damit beschäftigt, die wenigen Gebäude in Rekordtempo abzureißen. Lützerath soll vom Erdboden verschwinden, um den Weg für das Abbaggern der darunter liegenden Braunkohle freizumachen, und dies möglichst schnell - in der Hoffnung, dass es dann für die Klimaaktivisten nichts mehr zu stürmen gibt. Doch bevor es soweit ist, kommt es am Samstag erst noch zum großen Showdown. Nur mit Tausenden Beamten, mit Wasserwerfern, Pfefferspray und Schlagstöcken kann die Polizei einen Durchbruch der Demonstranten verhindern. Dabei werden auf beiden Seiten Menschen verletzt - wie schwer, ist später strittig.
Politik und Behörden von der Stärke des Widerstandes überrascht
Wie schon 2018 beim nahe gelegenen Hambacher Forst scheinen Politik und Behörden auch diesmal wieder von der Stärke des Widerstands bis in breite Schichten des Bürgertums überrascht zu sein. Dass am Samstag viele Menschen zu der angekündigten Demonstration nach Erkelenz am Rande des rheinischen Braunkohletagebaus kommen würden, damit hat man gerechnet - aber dass es dann so viele sein würden und dies trotz Dauerregens und Windböen, das übertrifft dann doch alle Erwartungen. Die Polizei spricht von 15.000 Teilnehmern, Fridays for Future von mindestens 35.000.
Michael Strauß kommt aus der Nähe von Stuttgart: "Ich finde es wichtig, dass wir zeigen, dass wir nicht alles unterstützen, was politisch läuft", sagt der 33-Jährige. Unter den Demonstranten sind Familien mit Kindern, manche haben ihren Hund mitgebracht. Ein Mann schiebt einen Einkaufswagen mit Verpflegung - Kisten mit Äpfeln, Mandarinen und Möhren. Teilnehmer skandieren Parolen wie "Aaa-lleeee - alle Dörfer bleiben". Manche haben Trommeln dabei, zwei Männer mit Trompeten stimmen Karnevalslieder an.
Anwohner solidarisieren sich spontan mit den Besuchern: "Muss noch jemand auf Toilette?" Als die Sprache auf die beiden Aktivisten kommt, die in Lützerath seit Tagen in einem Tunnel ausharren, sagt ein Demonstrant ehrfurchtsvoll zu anderen: "Absolute Helden!"
Fast schon in Sichtweite der Bühne teilt sich der schier endlos lange Demozug - Hunderte Teilnehmer gehen Richtung Tagebau-Abbruchkante. Trotz des aufgeweichten Bodens treten viele, auch mit Kindern, nah an den Abgrund heran, schauen sich den gewaltigen Krater an und machen Selfies. Dass dort Lebensgefahr besteht, weil es zu Erdrutschen kommen kann, scheint ihnen nicht bewusst zu sein.
Thunberg beschreibt Bagger-Landschaft als "Mordor"
Sie blicken über eine Landschaft, die Klimaaktivistin Greta Thunberg an diesem Tag im dpa-Interview als "Mordor" bezeichnet - jenes zerklüftete, baumlose Reich, in dem der englische Schriftsteller J.R.R. Tolkien in seiner Fantasiewelt Mittelerde das ultimativ Böse verortet hat. Nur wenige Kilometer weiter herrscht dagegen Auenland-Romantik samt Hühnern, Heuhaufen und grasenden Pferden. Hier gibt die weltberühmte Greta am Vormittag Interviews.
Stunden später steht sie vor einer unabsehbaren Menschenmenge auf dem Podium. Es pfeift und weht, so dass sie sich während ihrer Rede immer wieder die Haare aus dem Gesicht streichen muss: "Sorry!" Dann sagt sie, an ihre Zuhörer gewandt: "You are the saints, and you are the hope!" Sie sind die Heiligen und die Hoffnung. Wenn die Regierungen versagten und mit Konzernen paktierten, müssten die ganz normalen Menschen die Dinge eben selbst in die Hand nehmen. Thunbergs Rede ist getragen von der Überzeugung, dass die Klimaaktivisten in der nachwachsenden Generation die Mehrheit stellen werden. In diese Richtung gingen auch Rufe, die die Besetzer von Lützerath in den vorangegangenen Tagen der Polizei zugerufen habe: "Eure Kinder sind wie wir! Eure Kinder sind wie wir!"
Am Ende ruft Greta den Demonstranten etwas auf Deutsch zu: "Ich sag "Lützi" - ihr sagt?" - "Bleibt!", ergänzt die Menge. Es ist zwar höchst unwahrscheinlich, dass von Lützerath in wenigen Tagen noch irgendetwas Materielles zurückbleiben wird - schon am Sonntag ist etwa der Haupthof von Bauer Eckardt Heukamp vollständig abgerissen. In Erinnerung bleiben dürfte der kleine Ort aber trotzdem: als Mahnung, dass ein solcher Abriss im heutigen Deutschland nur noch unter Aufbietung massiver staatlicher Machtmittel durchgesetzt werden kann. © dpa

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.