Am 15. April gingen bei Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland endgültig die Lichter aus. Damit wurden die drei letzten deutschen Atomkraftwerke vom Netz genommen. Im Ausland sind dagegen viele neue Meiler geplant. Erfreut sich die Atomkraft im Rest der Welt einer Renaissance?

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Infolge der Katastrophe von Fukushima beschloss Angela Merkel 2011 den endgültigen Atomausstieg. Doch mit dem Ukraine-Krieg hat sich die Weltlage wieder geändert. Nach der zu großen Abhängigkeit von russischem Gas muss die Politik den Balanceakt zwischen einer sicheren Energieversorgung und dem Ausbau neuer, sauberer Energiequellen hinbekommen.

Die Bevölkerung scheint gerade auf Nummer sicher bei der Energieversorgung gehen zu wollen. So spricht sich aktuell ein überwiegender Teil der in Deutschland wahlberechtigten Bürger gegen den Atomausstieg aus. Sechs von zehn Befragten (59 Prozent) im aktuellen DeutschlandTrend für das ARD-Morgenmagazin halten die Entscheidung der Politik für falsch, lediglich ein Drittel (34 Prozent) für richtig. Trotzdem will die Ampelkoalition am Ausstieg festhalten.

Mehr Reaktoren für Energieunabhängigkeit und fürs Klima?

Das Gegenteil scheint im Ausland der Fall zu sein. Frankreich, Polen, Tschechien oder Schweden: Eine Reihe von EU-Staaten wolle jetzt verstärkt auf die Nutzung von Kernenergie setzen, neben Frankreich plane ein halbes Dutzend weiterer EU-Länder den Neubau von Meilern, berichtet die Berliner Morgenpost. Von einer "Renaissance der Atomkraft" ist immer öfter die Rede – mehr Reaktoren für Energieunabhängigkeit und fürs Klima, dank CO2-Neutralität.

Der Eindruck täusche, das Gegenteil sei der Fall, sagt Mycle Schneider, unabhängiger Energie- und Atompolitikanalyst. Schneider ist Projektleiter und Herausgeber des "World Nuclear Industry Status Report" (WNISR), einem jährlichen Bericht über die Nuklearindustrie.

Nicht die Absichtserklärungen, neue Meiler zu bauen, seien entscheidend, sondern die Frage, was überhaupt noch technisch möglich sei. "Atomkraftwerke kann man nicht im Laden kaufen. Die gibt's noch nicht bei Aldi."

Von 15 Meilern gingen nur sieben weltweit in Betrieb

Anfang 2022 sollten weltweit 15 Atommeiler im Laufe des Jahres in Betrieb gehen. Sieben davon haben es geschafft, sagt Schneider. Davon sind drei in China, jeweils eins in Pakistan und den Vereinigten Arabischen Emiraten, nach 17 Jahren Bauzeit ein finnischer Reaktor und einer in Korea. "Die Atomindustrie ist unfähig, das letzte Baujahr vorherzusagen", schlussfolgert Schneider.

In Frankreich brachten kürzlich Berichte über gravierende Schäden bei mehreren Atommeilern die Regierung in Bedrängnis, wie das ZDF berichtet. Trotzdem hält Präsident Macron am Neubau von sechs Reaktoren fest. Die Kostenschätzungen seien innerhalb weniger Monate um 13 Prozent gestiegen. "Da können Sie sich vorstellen, wie zuverlässig Kostenschätzungen auf die nächsten 20 Jahren sein werden", sagt Schneider. In der Vorgängergeneration sollte der sogenannte EPR-1-Reaktor – "Europäische Druckwasserreaktor" - ursprünglich 2,5 Milliarden Euro kosten. Beim Baubeginn seien es schon 3,3 Milliarden gewesen. Am Ende wurden es 22 Milliarden Euro.

Laufe es gut, könnte der erste der geplanten sechs Reaktoren 2039 ans Netz gehen. "Bisher lief es aber bei keiner der Planungen gut. Eher viel schlechter als die schlechtesten Prognosen", sagt der Atom-Experte. Dann würde 2043 der erste fertig sein. Und der sechste 2050.

Zu viel Meinung trifft auf zu wenig Fakten

In den derzeitigen Debatten über Atomkraft gibt es laut Schneider zu viel Meinung und zu wenig Fakten: "Die Fakten deuten auf einen Abgesang der Atomenergie hin." In Schweden kündigte Ministerpräsident Ulf Kristersson einen Gesetzesentwurf mit dem Ziel an, den AKW-Neubau zu legalisieren. "Daraus wurde: 'Die Schweden fangen wieder an, Atomkraftwerke zu bauen'", erklärt der Atom-Experte.

Es werde kein Unterschied mehr zwischen einem Gesetzentwurf und der industriellen Tätigkeit gemacht. Das andere Problem sei: "Wer soll das überhaupt bauen?", fragt Schneider. Die Industrie sei in Frankreich schon mit den existierenden Reaktoren überlastet. "Wegen akuter Probleme müssen Schweißer aus den USA und Kanada eingeflogen werden. Rohrstücke mussten in Italien gefertigt werden, weil es in Frankreich keine Fertigungskapazitäten gab", hat der Experte beobachtet.

2007 startete in der EU der bisher letzte Bau eines Atommeilers, im französischen Flamanville. Vom "Pannen-Reaktor" des französischen Atomkonzerns EDF war schnell die Rede, weil immer irgendetwas nicht funktionierte. Insgesamt habe EDF einen Schuldenberg von 64,5 Milliarden Euro angehäuft, sagt Schneider weiter.

Anteil von Kernenergie lag 2022 bei unter zehn Prozent

Weltweit lag 2022 erstmals der Anteil von Kernenergie bei der Stromerzeugung seit 40 Jahren bei unter zehn Prozent, so ist in der WNISR-Studie zu lesen. China spielt dabei eine große Rolle. Von insgesamt 25 neuen Meilern entfielen 15 auf das Reich der Mitte, die von Anfang 2020 bis Ende 2022 in Bau gingen. "Alle anderen Baustarts wurden in verschiedenen Ländern von der russischen Industrie umgesetzt", sagt Schneider. Bisher steht die russische Atomindustrie noch auf keiner Sanktionsliste, obwohl dies mehrmals vom EU-Parlament gefordert wurde. Neben Gas gebe es also auch eine weltweite Abhängigkeit von Brennelementen, sagt der Experte.

Zu den wenigen Starts neuer Atomkraftwerke kommen die Abschaltungen alter hinzu. Im vergangenen Jahr gingen weltweit fünf vom Netz, davon drei in Großbritannien und jeweils eins in Belgien und den USA. In den letzten 20 Jahren gab es 99 Betriebsaufnahmen und 105 Schließungen: Eine negative Bilanz.

"China hat mit 49 Starts die Hälfte der Atomkraftwerke gebaut, aber kein einziges vom Netz genommen", sagt Schneider. Lässt man China außen vor, heißt das: Weltweit wurden 50 Meiler gestartet und 105 geschlossen. "Das ist ein schleichender globaler Ausstieg."

Vor Tschernobyl-Katastrophe starteten die meisten Atomkraftwerke

Mangelnde Wirtschaftlichkeit und Sicherheit sieht Schneider als die Hauptgründe an. So gingen vor der Atomkatastrophe von Tschernobyl die meisten Atomkraftwerke an den Start. "Ende der 1980er und auch nach Fukushima wurden besonders viele vom Netz genommen, einschließlich acht in Deutschland." Insbesondere die horrenden Kosten für Atomkraft – siehe Frankreich – machten Solar- und Windenergie attraktiver.

Das Alter der Reaktoren verursache ebenfalls steigende Kosten. Über 31 Jahre hat weltweit im Schnitt ein Atomreaktor auf dem Buckel. Einige der europäischen Meiler hätten mittlerweile sogar das stattliche Alter von 50 Jahren erreicht. "Da muss man kein Experte sein, um zu wissen, dass das nicht auf dem letzten Stand der Technik ist."

Andere bedauern den deutschen Atomausstieg

Für einen Abgesang auf die Kernkraft sieht Uwe Stoll keinen Grund. "Für sehr viele Länder ist die Nutzung der Kernenergie ein wesentlicher Bestandteil ihres Bestrebens zur CO2-Minderung", sagt der technisch-wissenschaftliche Geschäftsführer von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS).

Eine Laufzeitverlängerung bestehender Kernkraftwerke zählt seiner Meinung nach zu den schnellsten und kostengünstigsten Maßnahmen zur CO2-Minderung. "Deshalb werden aktuell in fast allen AKW-betreibenden Ländern die Laufzeiten auf 60 bis 80 Jahre verlängert." Stoll bedauert den deutschen Atomausstieg.

Den Boom der Atomenergie sieht auch er eher in China und Russland. "An eine Renaissance der Kernkraft im Westen glaube ich erst, wenn ich auf vielen Baustellen Beton fließen sehe."

"Habeck könnte genauso mit einem Sprengkommando ein Viertel der deutschen Windparks plattmachen"

Drastischer sieht den deutschen Sonderweg Anna Veronika Wendland: "Deutschland verliert jetzt noch einmal 4.200 Megawatt installierte, gesicherte und klimafreundliche Leistung. Das ist ein Jahr lang Strom für rund neun Millionen Haushalte", sagt die Technikhistorikerin vom Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung.

Durch das Abschalten der drei Atommeiler fehle der Strom von 7.500 deutschen Durchschnitts-Windkraftanlagen pro Jahr, rechnet Wendland vor. "Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck könnte jetzt also genauso mit einem Sprengkommando durchs Land fahren und ein Viertel der deutschen Windparks plattmachen."

Energiewende sei nur mit Atomkraft zu schaffen

Neben dem Ausbau der Erneuerbaren Energien sei die Energiewende nur mit Atomkraft zu schaffen, sagt Wendland. Wer glaube, nur mit dem Zubau von Wind- und Photovoltaikanlagen die Sache erledigen zu können, "der wird ein bitteres Erwachen haben." Zudem sieht sie die Renaissance der Atomenergie an den deutschen Grenzen, wo neue Kernkraftwerke entstünden.

"Ich kann den Deutschen nur empfehlen, sich rechtzeitig Strom einzukaufen, etwa bei Niederländern und Polen." Bei dem zukünftigen Strom- und Wasserstoffbedarf könne man sich freuen, wenn man auf leistungsstarke, zuverlässige Erzeuger zurückgreifen könne.

Zu den Personen: Mycle Schneider arbeitet als deutscher Energie- und Atompolitikberater in Paris. Er ist Projektleiter und Herausgeber des "World Nuclear Industry Status Report", einem jährlichen Bericht über die Nuklearindustrie, der mit finanzieller Unterstützung vor allem verschiedener Stiftungen, darunter die amerikanische MacArthur Foundation, die deutsche Heinrich Böll Stiftung, und die Schweizerischen Energiestiftung erscheint.
Uwe Stoll ist technisch-wissenschaftlicher Geschäftsführer bei der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS), die seit 1977 Deutschlands zentrale Fachorganisation auf dem Gebiet der nuklearen Sicherheit ist.
Anna Veronika Wendland arbeitet als Technik- und Osteuropahistorikerin am Herder-Institut. Ebenso ist sie Publizistin.

Verwendete Quellen:

  • tagesschau.de: Mehrheit ist gegen Atomausstieg
  • morgenpost.de: Atomkraft: Diese EU-Länder bauen sogar neue Meiler
  • World Nuclear Industry Status Report (Bericht über den Zustand der weltweiten Atomenergie)
  • zdf.de: Die AKWs haben Risse - die Atompolitik nicht
  • fr.de: Frankreichs Pannen-AKW
JTI zertifiziert

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