• Eine Woche nach dem Amtsantritt des Linkspolitikers Luiz Inácio Lula da Silva bricht sich der Hass auf die neue Regierung Bahn.
  • Tausende Anhänger des rechten Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro stürmen Kongress und Regierungssitz in Brasília.
  • Die Aktion erinnert an den Sturm aufs Kapitol in Washington vor zwei Jahren.

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Radikale Anhänger von Ex-Präsident Jair Bolsonaro haben das Regierungsviertel in der brasilianischen Hauptstadt Brasília gestürmt und kurzzeitig die Schaltzentralen der wichtigsten Staatsgewalten des Landes unter ihre Kontrolle gebracht. Sie drangen am Sonntag (Ortszeit) in den Nationalkongress, den Obersten Gerichtshof und den Regierungssitz Palácio do Planalto ein und randalierten in Sitzungssälen und Büros.

"Was sie heute getan haben, ist beispiellos in der Geschichte des Landes", sagte Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva. "Das war Barbarei. Das waren Faschisten. Sie müssen gefunden und bestraft werden." Der Linkspolitiker hatte Brasilien bereits zwischen 2003 und 2010 regiert und erst vor einer Woche als erster demokratisch gewählter Präsident des südamerikanischen Landes eine dritte Amtszeit angetreten.

Lula befand sich zum Zeitpunkt der Angriffe nicht in der Hauptstadt, sondern stattete der Stadt Araraquara im Bundesstaat São Paulo einen Besuch ab. Sie war Ende 2022 bei Überschwemmungen verwüstet worden.

Über 200 Festgenommene - Lula inspiziert Schäden im Regierungsviertel

Lula reiste umgehend nach Brasília, um die Schäden in der Hauptstadt zu begutachten. Auf Bildern des Fernsehsenders TV Globo war der Präsident am späten Sonntagabend (Ortszeit) im Gespräch mit Richtern vor dem Obersten Gerichtshofs zu sehen, der zuvor ebenso wie der Kongress und der Präsidentschaftspalast angegriffen worden war.

Stunden nach Beginn der Ausschreitungen brachten Sicherheitskräfte die Situation im Regierungsviertel von Brasília wieder weitgehend unter Kontrolle. Justizminister Flavio Dino erklärte am Sonntagabend vor Journalisten, die drei erstürmten Gebäude seien vollständig geräumt worden. Rund 230 Menschen wurden festgenommen.

Auf Bildern des Fernsehsenders CNN Brasil war zu sehen, wie in Gelb und Grün gekleidete Bolsonaro-Anhänger mit hinter dem Rücken verschränkten Armen und von Polizisten begleitet der Reihe nach die Rampe des Präsidentenpalastes Planalto herunterkamen. Ein Bus mit zuvor festgenommenen Demonstranten fuhr demnach in Richtung einer Polizeistation ab.

Der Gouverneur des Hauptstadtbezirks Brasilia, Ibaneis Rocha, entließ den Sicherheitschef der Hauptstadt, Anderson Torres, der zuvor als Bolsonaros Justizminister tätig gewesen war. Die Generalstaatsanwaltschaft ersuchte den Obersten Gerichtshof eigenen Angaben zufolge, Haftbefehle gegen Torres und alle anderen Amtsträger zu erlassen, die für "Handlungen und Unterlassungen" verantwortlich seien, die zu den Unruhen geführt hätten.

Bolsonaro hatte Brasilien zwei Tage vor dem Ende seiner Amtszeit verlassen und hält sich seither im US-Bundesstaat Florida auf. Lula, der seit Jahren als Idol der lateinamerikanischen Linken gilt, hatte sich am 30. Oktober in der Stichwahl um das Präsidentenamt mit hauchdünnem Vorsprung gegen Bolsonaro durchgesetzt. Bolsonaro hat seine Wahlniederlage seither nicht eingestanden - und sich unter anderem geweigert, der Amtsübergabe an Lula beizuwohnen.

Randale im Palácio do Planalto: Zerstörte Fenster, Parolen an den Wänden und eine geklaute Bürotür

Tausende Bolsonaro-Fans hatten zuvor das Regierungsviertel gestürmt. Die Polizei wirkte völlig überrumpelt. Schnell rissen die Demonstranten die Straßensperren ein und drängten die Beamten zurück. Bald standen sie auf dem Dach des Kongresses und schwenkten brasilianische Nationalflaggen. Kurz darauf drangen sie auch in den Obersten Gerichtshof und den Regierungssitz ein.

Im Inneren der Gebäude ließen die Randalierer ihrem Hass auf die neue Linksregierung freien Lauf. Sie stießen Stühle und Schreibtische um, warfen Fensterscheiben ein, beschädigten Kunstwerke und schmierten Parolen an die Wände. Ein Angreifer nahm sogar die Bürotür des bei Bolosonaro-Anhängern besonders verhassten Bundesrichters Alexandre de Moraes als Trophäe mit.

Erst nach Stunden brachten die Sicherheitskräfte die Lage wieder unter Kontrolle. Die Militärpolizei rückte mit Reiterstaffeln und gepanzerten Fahrzeugen auf den Platz der drei Staatsgewalten im Zentrum der Hauptstadt vor. Spezialkräfte setzen Tränengas ein, Hubschrauber kreisten über dem Regierungsviertel. Rund 230 Verdächtige wurden festgenommen, wie Justizminister Flavio Dino mitteilte.

Polizei in Brasília gibt keine gute Figur ab

Gerade zu Beginn der Krawalle gab die Polizei keine gute Figur ab. Schon seit Tagen hatten zahlreichreiche Bolsonaro-Anhänger vor dem Hauptquartier der Streitkräfte kampiert. Als am Samstag und Sonntag rund 4.000 weitere Unterstützer des Ex-Präsidenten in Bussen in der Hauptstadt eintrafen und zum Regierungsviertel zogen, wurden sie sogar von Beamten eskortiert. Polizisten machten Selfies mit den Demonstranten und drehten Handy-Videos, wie im Fernsehen zu sehen war.

Der Sicherheitschef von Brasília, Anderson Torres, war unter Bolsonaro Justizminister und gilt als Gefolgsmann des Ex-Präsidenten. Er wurde noch am Sonntag entlassen. Lula stellte die öffentliche Sicherheit in der Hauptstadt per Dekret unter Bundesaufsicht. Auch in der Polizei hat der frühere Staatschef Bolsonaro offenbar noch immer viele Sympathisanten. Als der Mob das Regierungsviertel stürmte, stellten sich ihm jedenfalls nur wenige Beamte entgegen.

Bolsonaro verurteilt Angriff auf das Regierungsviertel in Brasília und weist Lulas Vorwürfe zurück

Bolsonaro verurteilte den Angriff seiner radikalen Anhänger auf das Regierungsviertel. "Friedliche Demonstrationen sind Teil der Demokratie. Plünderungen und Überfälle auf öffentliche Gebäude, wie sie heute stattgefunden haben, fallen jedoch nicht darunter", schrieb der rechte Ex-Staatschef auf Twitter. "Während meiner gesamten Amtszeit habe ich mich stets an die Verfassung gehalten und die Gesetze, die Demokratie, die Transparenz und unsere heilige Freiheit geachtet und verteidigt."

Lula warf Bolsonaro vor, seine Anhänger aufgestachelt zu haben. "Sie nutzten die sonntägliche Stille, als wir noch dabei waren, die Regierung zu bilden, um zu tun, was sie taten. Es gibt mehrere Reden des ehemaligen Präsidenten, in denen er dies befürwortet. Dies liegt auch in seiner Verantwortung und in der Verantwortung der Parteien, die ihn unterstützt haben", sagte Lula.

Bolsonaro verbat sich die Anschuldigungen. "Ich weise die Vorwürfe zurück, die der derzeitige Chef der brasilianischen Regierung ohne Beweise erhebt", schrieb er. Der Ex-Militär hatte mit seiner Familie Brasilien bereits zwei Tage vor dem Ende seiner Amtszeit verlassen und war in die USA gereist.

US-Präsident Biden verurteilt Angriffe, EU sichert Lula Unterstützung zu

Die Szenen in Brasília erinnerten an die Ausschreitungen am Sitz des US-Kongresses in Washington am 6. Januar 2021. Damals hatten Anhänger von Donald Trump das Kapitol gestürmt, in dem die Wahlniederlage des Republikaners gegen Joe Biden beglaubigt werden sollte. Die Menge drang gewaltsam in das Gebäude ein, fünf Menschen starben.

US-Präsident Biden nannte die Vorfälle in Brasília nach Angaben seiner Sprecherin "ungeheuerlich". "Unsere Unterstützung für die demokratischen Institutionen Brasiliens ist unerschütterlich", erklärte sein Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan.

EU-Ratspräsident Charles Michel sagte Lula seine "volle Unterstützung" zu. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell äußerte sich "entsetzt" über die Erstürmung der drei Gebäude in Brasília durch "gewalttätige Extremisten". "Die EU verurteilt die antidemokratischen Akte der Gewalt, die am Sonntag, den 8. Januar, im Herzen des Regierungsviertels von Brasília stattgefunden haben", teilte Borrell am Sonntagabend mit. "Die brasilianische Demokratie wird über Gewalt und Extremismus siegen", hieß es weiter.

Die politischen Führungskräfte Brasiliens, allen voran Ex-Präsident Bolsonaro, müssten "verantwortlich handeln und ihre Anhänger auffordern, nach Hause zu gehen", mahnte der EU-Außenbeauftragte. Der richtige Ort zur Lösung politischer Differenzen seien die demokratischen Institutionen Brasiliens und nicht die Gewalt in den Straßen.

Auch Staats- und Regierungschefs mehrerer EU-Länder stellten sich hinter Lula. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron twitterte am Abend auf Portugiesisch: "Der Wille des brasilianischen Volkes und der demokratischen Institutionen muss respektiert werden!" Lula könne auf die bedingungslose Unterstützung Frankreichs zählen.

Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez forderte auf Twitter "eine sofortige Rückkehr zur demokratischen Normalität" in Brasilien. Auch Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni bekundete per Tweet Italiens "Solidarität mit den brasilianischen Institutionen" und betonte: "Was in Brasilien passiert, kann uns nicht gleichgültig lassen."

Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock verurteilte die Angriffe scharf. "Was in #Brasilia passierte, war ein feiger und gewalttätiger Angriff auf die Demokratie", schrieb die Grünen-Politikerin am Montagmorgen im Kurznachrichtendienst Twitter. Deutschlands ganze Solidarität gelte dem brasilianischen Volk, seinen demokratischen Institutionen sowie dem aktuellen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva.

Der deutsche Entwicklungsstaatssekretär Niels Annen (SPD) twitterte auf Englisch, es sei "unglaublich, den Angriff von Faschisten auf die brasilianische Hauptstadt zu sehen". Die internationale Gemeinschaft werde sich hinter Präsident Lula und den "demokratischen Institutionen Brasiliens" versammeln.

Beträchtliche Schäden an Kongressgebäude, Präsidentenpalast und Oberstem Gericht

Die Schäden an Kongressgebäude, Präsidentenpalast und Oberstem Gericht schienen beträchtlich zu sein. Die Gebäude gelten als Ikonen der modernen Architektur, in ihnen befinden sich zahlreiche Kunstwerke. Unter anderem war auf in Online-Netzwerken veröffentlichten Fotos zu sehen, dass ein im Präsidentenpalast ausgestelltes Gemälde des Künstlers Emiliano Cavalcanti mehrere Löcher aufwies.

Der rechte Präsident Bolsonaro war im vergangenen Oktober dem Linkspolitiker Lula in der Stichwahl unterlegen und zum Jahreswechsel aus dem Amt geschieden. Bereits vor der Wahl hatte er immer wieder Zweifel am Wahlsystem gestreut. Beweise dafür legte er allerdings nie vor.

Auch nach der Abstimmung erkannte er seine Niederlage nie ausdrücklich an. Seine Anhänger blockierten immer wieder Landstraßen, kampierten vor Kasernen und forderten eine Militärintervention zugunsten des abgewählten Staatschefs. (Denis Düttmann, dpa/AFP/ank)

Teaserbild: © dpa/Matheus Alves