• Seit Monaten ringen Politiker um eine Impfpflicht in Deutschland.
  • Ein Vorstoß für eine verpflichtende Impfung ab 18 Jahren war zuletzt gescheitert.
  • Trägt der Bundestag nun das gesamte Projekt Impfpflicht zu Grabe, oder kommt sie doch noch?

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Nach monatelangem Ringen fällt der Bundestag am Donnerstag (Debatte seit 9:00 Uhr - siehe Livestream oben) die Entscheidung über die Einführung einer allgemeinen Corona-Impfpflicht in Deutschland.

Als einziger ausgearbeiteter Gesetzentwurf liegt ein Kompromissvorschlag für eine Impfpflicht zunächst für Menschen ab 60 Jahre vor. Darauf hatten sich zwei Gruppen von Abgeordneten aus SPD, FDP und Grünen verständigt. Zwei Anträge wenden sich gegen eine Impfpflicht, die Union fordert in einem Antrag zuerst den Aufbau eines Impfregisters.

Seit Beginn der Pandemie war eine allgemeine Impfpflicht lange über Parteigrenzen hinweg ausgeschlossen worden. Angesichts schleppender Impfungen sprachen sich Ende vergangenen Jahres Kanzler Olaf Scholz (SPD) und die Ministerpräsidenten dann doch dafür aus.

Wenn der Bundestag die Impfpflicht beschließt, müsste der Bundesrat zustimmen. Aktuell haben mindestens 63,2 Millionen Menschen oder 76 Prozent aller Einwohner den Grundschutz mit der nötigen zweiten Spritze. Die Impf-Kampagne ist aber nahezu zum Erliegen gekommen.

Teils hitzige Debatte über Impfpflicht im Bundestag

Vor der mit Spannung erwarteten Abstimmung - weitgehend ohne die sonst üblichen Fraktionsvorgaben - zeichneten sich zunächst keine klaren Mehrheitsverhältnisse ab. Die Debatte wurde im Bundestag teils hitzig geführt. So lieferten sich etwa Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und FDP-Politiker Wolfgang Kubicki einen Schlagabtausch im Parlament. Kubicki positionierte sich am Donnerstag strikt gegen eine Impfpflicht.

Durch sie werde laut Kubicki keine Herdenimmunität erreicht, und eine Überlastung des Gesundheitswesens werde es voraussichtlich nicht geben. Es sei nicht die Aufgabe des Staates, erwachsene Menschen gegen ihren Willen zum Selbstschutz zu verpflichten. Die mildere Omikron-Variante des Coronavirus zwinge zudem zum Umdenken. "Deshalb ist eine allgemeine Impfpflicht, ob ab 18 oder 60, weder rechtlich noch gesellschaftspolitisch zu rechtfertigen."

Der Bundesgesundheitsminister widersprach dem FDP-Politiker daraufhin entschieden und wies die Darstellung zurück, dass die Omikron-Variante weniger gefährlich sei. Omikron verlaufe deshalb milder, weil viele Menschen geimpft seien, sagte Lauterbach.

Es seien im Herbst auch durchweg sehr gefährliche Varianten möglich. "Sie sollten nicht vortäuschen, als wenn Sie wüssten, dass das im Herbst nicht der Fall ist", sagte Lauterbach an Kubicki gewandt. Nicht gewöhnen sollte sich das Land daran, "dass jeden Tag 200 bis 300 Menschen sterben". 90 Prozent der Todesfälle, die durch eine Impfpflicht ab 18 verhindert werden könnten, könnten auch schon durch eine Impfpflicht ab 60 verhindert werden, erklärte Lauterbach.

Gleichzeitig rief Lauterbach die Union dazu auf, eine Impfpflicht mit auf den Weg zu bringen. "Wir brauchen heute einmal ihre staatstragende Unterstützung, um im Herbst anders dazustehen als wir jetzt stehen."

Grünen-Politiker kritisiert "Virus der Parteitaktik" der Union

Entgegen seinem Parteikollegen Kubicki warb auch FDP-Gesundheitspolitiker Andrew Ullmann für den Impfpflicht-Kompromiss aus den Reihen der Ampel-Parteien. Man wolle Vorsorge treffen, keinen dritten Corona-Winter erleben und das Gesundheitssystem vor Überlastungen schützen, sagte Ullmann.

Eine Vorhersage, wie eine nächste Corona-Welle im Winter aussehen werde, könne nicht seriös getroffen werden, sagte Ullmann. "Wir wissen, die Welle kommt. Aber die Qualität dieser Welle kennen wir wirklich nicht. Das ist ähnlich wie bei einer Wettervorhersage." Nichts zu tun wäre nach dem aktuellen Stand der Dinge möglich, "aber ein Pokerspiel".

Der CDU-Gesundheitspolitiker Tino Sorge sprach sich hingegen für den "Kompromissvorschlag" aus, den die Union vorgebracht hatte. "Wir strecken Ihnen die Hand entgegen", so Sorge an die Fraktionen der Ampel-Koalition. Sorge sprach von einem ausgewogenen Vorschlag der Union. Er warf der Ampel vor, nicht ernsthaft auf die Union zugegangen zu sein.

Grünen-Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen warf der Union Parteitaktik vor. "Dieses Virus der Parteitaktik tötet das Vertrauen in demokratische Institutionen", sagte Dahmen. "Demokratie besteht nicht daraus, dass man einen wirkungslosen, halbherzigen Antrag in den Raum wirft, dann die Tür verschließt und nicht mehr ans Telefon geht."

Stattdessen plädierte auch Dahmen für eine Impfpflicht zunächst für Menschen ab 60 Jahren. "Die Prävention mit der Impfpflicht bringt uns raus aus dieser Pandemie", sagte Dahmen. Eine Impfpflicht ab 60 sei wirksam, rechtssicher und vernünftig.

Weidel und Wagenknecht stellen sich gegen Impfpflicht

AfD-Fraktionschefin Alice Weidel argumentierte entschieden gegen die Einführung einer Impfpflicht. Die Regierung handele verfassungsfeindlich, wenn sie sich anmaße, das Recht auf körperliche Unversehrtheit "nach Belieben umzubiegen", sagte sie am Donnerstag im Bundestag.

"Die Impfpflicht ist nicht nur radikal verfassungsfeindlich, sie ist eine totalitäre Anmaßung, eine Entwürdigung des Individuums", betonte Weidel. Sie fragte: "Wer gibt dem Staat das Recht, uns zu unserem angeblichen Glück zu zwingen?"

Auch die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht kritisierte in der Debatte eine Bevormundung der Bürger. Wie gut die Impfung gegen künftige Virusmutationen schützen werde, sei nicht bekannt, argumentierte sie.

"Und trotzdem halten Sie unbeirrt daran fest, den Menschen eine Impfpflicht aufzuzwingen - weil der Kanzler Durchsetzungsfähigkeit demonstrieren muss?", fragte Wagenknecht. Auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wolle anscheinend Handlungsfähigkeit beweisen und sein Gesicht wahren.

"Die deutschen Geisterfahrer gegen des Rest der Welt, wo kein Mensch mehr über Impfpflichten nachdenkt und diskutiert, das kann doch nicht Ihr Ernst sein», sagte Wagenknecht. Die forderte: «Hören Sie auf, die Menschen zu bevormunden. Die Corona-Impfung muss eine persönliche Entscheidung bleiben."

Darüber diskutiert der Bundestag

Bundeskanzler Scholz und Gesundheitsminister Lauterbach hatten sich vor der Debatte am Donnerstag für eine Impfpflicht für alle Erwachsenen stark gemacht. Eine solche Lösung ist aber nicht mehr realistisch. Um doch noch ein mehrheitsfähiges Modell zu erreichen, weichten die Befürworter einer Impfpflicht ab 18 ihren Vorschlag auf und einigten sich mit einer Abgeordnetengruppe, die für eine mögliche Impfpflicht ab 50 eintrat, auf eine gemeinsame Initiative. Zentrale Punkte des Entwurfs:

Pflichten: Für alle ab 60 Jahre soll eine Pflicht kommen, bis zum 15. Oktober über einen Impf- oder Genesenennachweis zu verfügen. Für alle von 18 bis 59 Jahre, die nicht geimpft sind, kommt zunächst eine Beratungspflicht - sie müssen bis dahin "eine individuelle ärztliche Beratung" nachweisen. Über die Pflichten, Beratungs- und Impfangebote sollen die Krankenkassen bis 15. Mai die Bürger informieren.

Ausnahmen: Von den Pflichten ausgenommen sind Menschen, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können, und Frauen im ersten Schwangerschaftsdrittel.

Kontrollen: Die Nachweise muss man Behörden ab 15. Oktober zusammen mit einem Lichtbildausweis vorlegen können. Zum Durchsetzen sollen im Notfall nur Zwangsgelder zulässig sein, keine Ersatzhaft. Unabhängig von Kontrollen müssen Nachweise bis 15. Oktober der Krankenkasse vorgelegt werden, die Kassen sollen dies zum 1. September anfordern.

Zusätzliche Stufen: Der Bundestag soll im Licht des aktuellen Infektionsgeschehens beschließen können, dass die Nachweispflicht noch ausgesetzt wird. Ab dem 1. September kann das Parlament zudem beschließen, dass die Impfpflicht auch für 18- bis 59-Jährige kommt. Die gesamten Regelungen sollen bis 31. Dezember 2023 gelten.

Register: Bis Ende 2023 soll ein Register eingerichtet werden, das erhaltene Impfungen gegen bestimmte übertragbare Krankheiten oder eine vorliegende Immunität erfasst.

Drei weitere Anträge stehen im Raum

Außer dem Gesetzentwurf liegen dem Bundestag drei Anträge vor:

  • Die Union fordert ein Impfregister und spricht sich für einen "Impfvorsorgemechanismus" aus, den Bundestag und Bundesrat bei verschärfter Pandemielage in Kraft setzen könnten. Er könnte dann auch eine Impfpflicht vorsehen, aber nur für gefährdete Gruppen.
  • Eine Abgeordnetengruppe um FDP-Vize Wolfgang Kubicki fordert, die Impfbereitschaft ohne allgemeine Impfpflicht zu erhöhen.
  • Die AfD fordert, von der Einführung einer gesetzlichen Impfpflicht Abstand zu nehmen und die schon seit März greifende Impfpflicht für Personal in Einrichtungen wie Kliniken und Pflegeheimen aufzuheben.

Entscheiden muss der Bundestag voraussichtlich zuerst noch über die Reihenfolge bei der Abstimmung. SPD und FDP hatten signalisiert, dass zuerst über die Anträge entschieden werden soll und zum Schluss über den Entwurf für die Impfpflicht.

Dies könnte die Chancen erhöhen, dass manche Abgeordnete letztlich für ihn stimmen, nachdem eigentlich bevorzugte Initiativen zuvor keine Mehrheit bekommen haben. (dpa/thp)

Teaserbild: © picture alliance/dpa/Michael Kappeler